Gegen die Jahresmüdigkeit: Dezember abschaffen!
Die Schokonikoläuse pfeifen’s vom Dach: Niemand hat mehr Lust auf 2022. Die Jahresrückblicke sind längst geschrieben. Stellen wir die Stühle hoch?
Es sind noch 57 Tage übrig im Jahr 2022, aber viele würden am liebsten heute schon Schluss machen. Es herrscht der dringende Wunsch, dass das Jahr die Rechnung bestellt, zahlt, geht und sich bloß nie wieder blicken lässt.
Oder wie erklären Sie sich sonst, dass wir für Lebkuchen Ende Juli im Supermarkt nur noch ein Schulterzucken übrig haben? Weihnachtsgebäck gehört im Sommer so selbstverständlich ins Discountersortiment wie Strümpfe, Unterhosen und Inbusschlüssel im 10er-Pack.
Und welchen Grund sollte es sonst haben, dass die Böllerdebatte, die sonst zuverlässig Mitte/Ende November auftaucht, heuer bereits seit Ende Oktober im Gange ist? „2022 mach Schluss!“, schreiben sie schon, drüben auf Twitter. Sogar die ersten Jahresrückblicke auf musikalische und andere Großereignisse wurden schon in Umlauf gebracht, da gab es noch Erdbeeren im Supermarkt.
Sie finden, na ja, ist ja auch ein besonders schlimmes Jahr? Eins, das man schnell hinter sich lassen will? Eins, das am 24. Februar mit dem Krieg gegen die Ukraine begann? Stimmt. Aber es ist nicht das erste dieser Art. Schon länger gibt es das Bedürfnis nach einem vorgezogenen Ende des Jahres. Der Trend, das laufende Jahr nicht nur wegen persönlicher Schicksalsschläge, sondern auch aus politischen und gesamtgesellschaftlichen Gründen zum Teufel zu wünschen, begann im Europäischen spätestens 2015. Der 7. Januar 2015 war der Tag des tödlichen Anschlags auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo. Sehr laut wurde der Ruf nach dem vorzeitigen Ende des laufenden Jahres schon damals.
Jahr und Arbeitswoche sind zu lang
Das Jahr 2020 hatte noch nicht mal angefangen, da wurde es schon als schnellstmöglichst hinter sich zu Bringendes ausgerufen – denn am 31. Dezember 2019 bestätigte China eine mysteriöse Lungenkrankheit.
Die Politisierung des Wunsches nach Abkürzung des Jahres ist nur die Spitze einer unaufhaltsamen Entwicklung. Zunehmend wird das Jahr so wie die Arbeitswoche als viel zu lang empfunden. So intensiv wie über die Zeitumstellung sollten wir längst über die Monatsabschaffung diskutieren. Es ist Zeit, parallel zur 4-Tage-Woche über das 11-Monats-Jahr zu diskutieren.
Die Frage ist doch: Wer braucht eigentlich den Dezember? Sie wissen, was ich meine, wenn Sie mal versucht haben, im Dezember noch etwas zu klären, etwas zu bestellen oder jemanden mit etwas zu beauftragen – etwa eine freie Journalist*in mit einem gar nicht mal so schlecht bezahlten Text. Nichts geht mehr! Dezember ist zum Casual Friday unter den Monaten geworden ist. Ließe sich der Dezember nicht also nachhaltiger nutzen als bisher?
Sicher, wir brauchen ihn. Der Dezember ist der Monat, in dem man merkt, dass am Ende keiner vom Nörgeln allein leben kann, sondern jeder wenigstens ein Mal im Jahr Umarmung und Whisky braucht. Der Dezember ist aber auch der Monat, in dem den Einsamen auffällt, dass sie einsam sind. Letzteres liegt vor allem an diesem Weihnachten. Eine Zeit, in der man in Deutschland Revolution starten könnte und keiner bekäme es mit, weil grad wieder Plätzchen-im-Kerzenschein-bei Oma-am-gedeckten-Kaffeetisch-time ist.
Machen wir uns locker im Dezember!
Wenn man hingegen den ganzen letzten Monat des Jahres zum Casual December erklärte, könnte dieses Gefühl vielleicht weniger schwer wiegen.
Denn wir wissen doch: Montagsfrust ist nichts gegen Donnerstagsdepression. Wenn man feststellt, dass die Woche quasi rum ist und man wieder kaum was auf die Kette gekriegt hat und jetzt schon das quengelnde Wochenende anruft. Dieses Wochenende, das man besser irgendwie befriedigt, sonst klopft am Sonntagabend noch vor dem „Tatort“ die Sinnfrage an die Haustür.
Gegen diesen Donnerstagsfrust entwickelte sich quasi natürlicherweise der Casual Friday. Ohne Gesetzesvorlage oder sonstige Regulierung hieß es irgendwann: „Am Freitag um eins macht jeder seins.“ Freitags noch irgendwas zu erledigen außer Wochenendeinkäufe, ist so illusorisch, wie im Dezember noch alles wegzuschaufeln, was man im Rest des Jahres nicht hingekriegt hat.
Casualisieren wir doch den Dezember, so wie die Freitage. Oder nein: Schaffen wir gemeinsam mit der 5-Tage-Woche den 12. Jahresmonat ab und geben uns alle bei vollem Gehalt die Möglichkeit durchzuatmen.
Die kritische Infrastruktur organisieren wir turnusmäßig, so wie wir ja auch jetzt schon darauf achten, dass nicht jeder zwischen den Jahren und am 1. Januar arbeiten muss. Den Rest machen wir so wie sonntags: Am Bahnhof ist immer was offen.
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