Geflüchteter will ins Parlament: Es ist auch sein Land
2014 floh Tarek Saad aus Syrien nach Schleswig-Holstein. Jetzt will er für die SPD in den Landtag. Kann das klappen?
A m Abend eines langen Tages sitzt Tarek Saad im Wohnzimmer eines Bauernhauses und überlegt, aus welchem seiner Leben er am besten erzählt. Es ist kurz nach sieben, draußen ist es kalt, nur eine Handvoll Lichter leuchten in der Dunkelheit. Die Nachbarhäuser des 511-Seelen-Dorfs Gönnebek, tiefstes Schleswig-Holstein.
Drinnen wirft eine Stehlampe schummriges Licht in den Raum, ein Akkordeon hängt an der Wand. „Schön habt ihr’s hier“, sagt Saad, 28, ein höflicher Mann von kleiner Statur. Er schenkt sich etwas Kaffee ein.
Ihm gegenüber sitzen drei Männer, größer, breiter, mehr als doppelt so alt wie er. Klaus, Werner, Thomas. Die Arme vor der Brust verschränkt. Auf ihren schwarzen Hoodies prangt ein Aufnäher, darauf ein Motorradfahrer und Flammen. Das Emblem ihrer Gruppe, die Flaming-Stars. Ein landesweiter Zusammenschluss von Feuerwehrleuten, die Motorrad fahren und sich sozial engagieren. Saad hatte ihnen eine Mail geschrieben, wollte sie kennenlernen, also lud Klaus ihn zu sich nach Hause ein.
„Na dann erzähl mal“, sagt Klaus.
Sein Neuanfang
Saad lächelt, stellt die Kaffeetasse ab. „Ich fahre auch Motorrad“, sagt er. „Hab ich im Krieg gelernt. Motorräder sind schneller und wendiger als Autos. Damit kannst du am besten den Kugeln ausweichen.“
Kurz ist es still. Dann erzählt Klaus von den Touren, die sie mit der Gruppe fahren.
Saad war schon den ganzen Tag in der Gegend unterwegs, um sich vorzustellen und vorzufühlen, ob er die Menschen für sich gewinnen kann. Er spricht über die Gesundheitsversorgung auf dem Land, den öffentlichen Nahverkehr, den Ausbau der Autobahn. Aber auch über sich selbst, sein Leben in Syrien, die Flucht nach Deutschland, seinen Neuanfang.
In der SPD sei ein Wunder geschehen, wird er am Ende des Abends sagen. Nach 16 Jahren Merkel stelle man wieder einen Kanzler. „Wenn noch ein Wunder geschieht und ich in den Landtag gewählt werde, möchte ich, dass ihr mich schon kennt.“
Tarek Saad hat sich viel vorgenommen. Wenn Schleswig-Holstein am 8. Mai einen neuen Landtag wählt, will er dort der erste Abgeordnete mit direktem Fluchthintergrund werden. Kein leichtes Unterfangen. Das Bundesland wird seit der letzten Wahl von einer Jamaika-Koalition regiert. Saads Wahlkreis, Segeberg-Ost, eine konservative, ländliche Gegend, wählt seit über 15 Jahren CDU. Und auch die Demografie spricht nicht für ihn.
45,6 Jahre beträgt das Durchschnittsalter in Schleswig-Holstein, etwas über dem Bundesdurchschnitt. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist mit 18 Prozent der niedrigste in Westdeutschland. Ein junger, aus Syrien geflüchteter Mann in einem weißen, alternden Land? Kann das funktionieren?
Wer Tarek Saad die Monate vor der Wahl begleitet, ihn auf Parteiveranstaltungen erlebt, neben ihm sitzt, während er mit seinem silbernen Opel Astra durch die weite, dünn besiedelte Landschaft fährt, der erlebt einen Mann, der mit seiner Integrationsgeschichte einerseits für viele ein Vorbild ist. Dessen Kandidatur andererseits aber auch auf Widerstände trifft, auch in der eigenen Partei.
Die Geschichte von Tarek Saad ist die Geschichte eines Mannes, der aus dem syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland kam und hier in eine Grundsatzfrage hineingeraten ist: Wie viel Diversität verträgt deutsche Politik?
Tarek Saad wird 1993 in der Hafenstadt Latakia im Westen Syriens geboren. Er wächst in einem konservativen Elternhaus auf. Der Vater, ein Lehrer, sucht seine Freunde für ihn aus, schreibt ihn ohne sein Wissen für ein Jurastudium ein. Die Mutter ist Hausfrau. Über Politik sprechen sie nicht.
Die Ausgangslage
Am 8. Mai wählt Schleswig-Holstein einen neuen Landtag. Seit Juni 2017 regiert Daniel Günther (CDU) das Land mit einer Koalition aus Union, Grünen und FDP.
Die Umfragen
Die CDU liegt momentan klar vorn. Demnach käme sie auf 38 Prozent, die SPD auf 20, die Grünen auf 16. Wegen einer Coronainfektion konnte Günther am Fernsehtriell am Dienstag nur per Videoschalte von zu Hause aus teilnehmen.
Als 2011 der Arabische Frühling in Syrien anbricht, begehrt auch Saad auf. Er sprüht Freiheitsparolen an Häuserwände, demonstriert gegen das Regime. 2012 geht er, um nicht in die Armee eingezogen zu werden, in die „befreite Zone“, wie er sie nennt. Ein Landstrich, den nicht Assad, sondern Rebellengruppen kontrollieren. Er filmt ihre Gefechte mit der Armee, verkauft die Aufnahmen unter anderem an al-Dschasira.
Er wird angeschossen, schwer verwundet in die Türkei gebracht, flüchtet dann nach Griechenland. Dort findet er einen Schlepper, der ihn für das Geld, das er mit den Videos verdient hat, nach Deutschland bringt. Im Juni 2014 kommt Saad mit fünf Euro in der Tasche in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs an. Die Behörden schicken ihn in die Gemeinde Felde bei Kiel.
Die erste Zeit lebt er in einer Notunterkunft, einer Baracke, mitten im Wald. Er freundet sich mit einer Flüchtlingshelferin, Petra Paulsen, an und lernt ihre zwei Söhne kennen. Die Familie führt ihn heran an dieses Land, über das er eingangs nicht mehr weiß, als die meisten Deutschen vor 2015 über Syrien wussten. „Deutschland war für mich nur Mercedes, BMW und Merkel“, sagt Saad.
Es wird schnell mehr. Das erste deutsche Wort, das er 2014 lernt, ist: „Moin“. Drei Jahre später beginnt er ein Studium der Politik- und Islamwissenschaft an der Uni Kiel, hält Vorträge in fast akzentfreiem Deutsch. Er wird Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Geschäftsführer eines Kulturvereins. 2020 erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft.
Sein politischer Aufstieg verläuft ähnlich rasant. Petra Paulsen, die Flüchtlingshelferin, ist Vorsitzende des SPD-Ortsvereins. 2015 macht sie Saad mit dem damaligen Ministerpräsidenten Torsten Albig bekannt. Saad liest sich alles zur Partei an, erfährt von Willy Brandt, selbst ein Geflüchteter. Für Saad eine Inspiration. „Ich hatte das Gefühl, in der SPD versteht man mich, wenn ich von Flüchtlingsthemen rede“, sagt er. 2016 tritt er in die Partei ein, 2018 wird er Landesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt, im April 2021 Beisitzer im Landesvorstand.
Einigen in der SPD geht sein Aufstieg zu schnell. „Zu jung, zu unerfahren, nicht lange genug in Deutschland – das habe ich immer wieder gehört, wenn ich mich auf Posten bewarb“, sagt Saad. Er sehe das aber als „normalen Parteiwettkampf“, als Teil der Demokratie. Die meisten in der Partei, so fühlt es sich für ihn an, stützen ihn auf dem Weg nach oben. „Ich hatte das Gefühl: Es kann immer so weitergehen.“
Am Abend des 29. September 2021 steht Tarek Saad im hell erleuchteten Saal des Bürgerhauses von Trappenkamp, einer 5.000-Einwohner-Gemeinde im Kreis Segeberg. Er wirkt angespannt. Die Wahl des Direktkandidaten steht an, die Entscheidung, wer die SPD im Wahlkreis vertritt. Etwa 30 Genossinnen und Genossen aus den umliegenden Ortsverbänden sind gekommen, die meisten jenseits der 50. Ein Meer aus grauen Köpfen.
Sein einziger Gegenkandidat ist ein Mann aus der Region. Jens Kahlsdorf, 61, groß, schütteres, graues Haar. Auf seinem Bewerbungsbogen prangt ein Bild, auf dem er sein Jackett jovial im Fingerhaken über der Schulter trägt. Kahlsdorf saß im Wirtschaftsbeirat der IHK, ist Vorsitzender der AG 60+ der SPD Segeberg.
Er redet ruhig, fast behäbig, manchmal spricht er von sich selbst in der dritten Person. Seine Rede streift die wichtigen Themen der Region: den Ausbau der Autobahn, Krankenversorgung, die Situation in den Schulen. Immer wieder kommt er auf den Business-Club zu sprechen, den er führt, ein Netzwerk von Unternehmern.
Saads Rede hingegen ist emotional, manchmal bricht ihm kurz die Stimme weg. Er zielt vor allem auf die Vergangenheit der Menschen, viele von ihnen Nachkommen Vertriebener aus Pommern, Geflüchtete wie er. In seiner Rede fallen die Worte Heimat, Gerechtigkeit, Solidarität. Am Ende entscheiden sich die Genossinnen und Genossen mit deutlicher Mehrheit für Saad, den Newcomer, und gegen Kahlsdorf, den vermeintlichen Mann aus ihren Reihen. Warum?
Vielleicht liegt es an Saads politischem Gespür. Er spricht von „Gesellschaftspolitik“, wenn er sich Leuten gegenübersieht, die er mit dem Wort „Migration“ verschrecken würde. Er weiß, dass er jungen Menschen am besten mit konkreten Vorschlägen zu Themen wie Klima- und Wirtschaftspolitik kommt, älteren hingegen am besten von seiner Flucht erzählt. Stellt man ihm auf Podien Fragen, deren Antwort er nicht kennt, sagt er, er schlage das nach.
Vielleicht liegt es aber auch an seinem Wissen um Parteistrukturen. Saad hat schnell gelernt, wann er Allianzen schmieden, wann er sich selbst behaupten muss. Er hat Praktika gemacht, ist im politischen Betrieb mitgelaufen. Bei Torsten Albig, Bettina Hagedorn, bei Serpil Midyatli, inzwischen Landesvorsitzende der SPD, für Saad war sie lange Zeit eine wichtige Mentorin.
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Saad sagt, er mache das alles nach Gefühl. „Wenn man täglich in dieser Partei unterwegs ist, versteht man, wie sie funktioniert.“
Manchmal, wenn man ihn auf Podien reden hört, hat man das Gefühl, er ist zu schnell für diesen Landstrich. Wäre er in einer größeren Stadt nicht besser aufgehoben, in Lübeck, Flensburg oder Kiel? Saad winkt ab. Die innerparteiliche Konkurrenz sei zu groß, dort würde er kein Bein auf den Boden kriegen. Also zog er mit seiner Verlobten – sie stammt aus der Gegend – nach Trappenkamp, ihre Großeltern haben da ein Haus. Saad begann, im Landkreis am örtlichen Leben teilzunehmen. Wurde Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr, zweimal im Monat sitzt er jetzt mit älteren Leuten an einem Tisch, um Plattdeutsch zu üben.
Menschen, mit denen man über ihn spricht, egal ob Parteimitglieder oder Vorsitzende lokaler Vereine, betonen, dass es ihm wirklich um die Sache geht. Saad setzt sich für den Ausbau von Fahrradwegen und für bessere Schulen ein, sein Kernthema aber ist die Integration. Für die Friedrich-Ebert-Stiftung hat er eine Expertise zur Flüchtlingspolitik des Landes mit erarbeitet. Er fordert das Ende der Abschiebehaft für abgelehnte Asylbewerber, setzt sich für bessere Arbeitsmarktchancen gut integrierter Geflüchteter mit Duldung ein, den sogenannten Spurwechsel.
Das politische Engagement als Lebensinhalt. Zugleich, scheint es, ist die aufreibende Arbeit für ihn aber auch eine Art Flucht.
Enrico Kreft,Mitglied im SPD-Landesvorstand, über Saads Rede zu seiner Kampfkandidatur
Ein Donnerstag, neun Uhr morgens. Tarek Saad sitzt in einem Gasthaus in der Gemeinde Leezen. Die Sonne scheint durch die breite Fensterfront. Er lächelt müde, die Nacht war kurz. Bis 2 Uhr morgens hat er am Computer gesessen, Mails geschrieben. Wenn er könnte, sagt Saad, würde er sieben Tage durcharbeiten. Pause mache er eigentlich nur, wenn seine Verlobte sage, sie bräuchten Zeit für sich als Paar. Er komme einfach schwer zur Ruhe.
Wirklich abschalten könne er nur beim Motorradfahren. Wenn er mit seiner Suzuki Gladius 650 über die Landstraßen fegt. Am liebsten mag er die Autobahnauf- und -abfahrten, die Kurven sind steil, man muss sich hundertprozentig konzentrieren. Er kann dann an nichts anderes denken. Nicht an die Partei, nicht an das Studium, nicht an die Vergangenheit.
„Je älter ich werde“, sagt Saad, „desto häufiger kommen die Erinnerungen.“
2011 filmt er mit seiner Kamera, wie Assads Scharfschützen auf Demonstranten schießen. Vor seinen Augen sterben Menschen, 18 Jahre alt ist er da.
Ab da wird alles schwarz
Dann, der 6. August 2013, sein 20. Geburtstag. Saad lebt damals bereits in der „befreiten Zone“, filmt Rebellen mit seiner Kamera. Sie sind unterwegs an die vorderste Front. Plötzlich explodieren zwei Granaten vor dem Auto, sie springen raus, suchen Deckung. Der Rest bleibt für ihn lange verschwommen, taucht erst nach Tagen in Form von Flashbacks auf. Eine erste Kugel trifft seine linke Schulter, Saad erinnert sich an das Blut, das seinen Arm herunterläuft. Eine zweite streift seinen Kopf. Ab da wird alles schwarz.
Fünf Tage später wacht er in einem Krankenhaus in der Türkei auf. Die Rebellen haben ihn dorthin gebracht. Unterwegs, werden sie ihm später erzählen, musste man ihn wiederbeleben. Fotos zeigen ihn auf einem Krankenbett, mit starrem Blick. „Wäre ich nur drei Zentimeter größer, hätte die zweite Kugel mitten in den Kopf getroffen“, sagt Saad. „Dann wäre ich heute nicht mehr da.“
Es ist eine Erfahrung, die zwischen ihm und den Menschen in seiner Umgebung steht. Saad sagt, er könne oft nicht verstehen, warum sie sich über Kleinigkeiten aufregen. Staus auf dem Weg zur Arbeit, Ärger mit dem Chef. „Luxusprobleme“ nennt er das.
Es falle ihm auch schwer, Angehörigen von Verstorbenen sein Mitgefühl auszusprechen. „Ich kann verstehen, dass jemand traurig ist“, sagt er, „aber manchmal kann ich es nicht fühlen. Weil der Tod für mich etwas Normales ist.“
Die Erfahrungen in Syrien hätten ihn abgehärtet, sagt er. Sie hätten ihn aber auch schätzen gelehrt, was er hier hat: das Leben in Sicherheit und in einer Demokratie. Die Möglichkeit, politisch etwas zu bewegen. Er sei stolz, dass er so weit gekommen ist.
Die Enttäuschung kommt Ende Januar. Die Parteispitze gibt die Landesliste bekannt, sie hat ihn auf den 27. Platz gesetzt. Über die Liste in den Landtag zu kommen, ist damit so gut wie aussichtslos.
Es muss sich lohnen
Saad ist wütend, verletzt. Er sagt, er fühle sich „als Maskottchen für Vielfalt“ benutzt. Er war mindestens von Platz 15 ausgegangen.
Er entschließt sich zu einer Kampfkandidatur um Platz sieben. Ein Platz, mit dem man relativ sicher in den Landtag einzieht. „Wenn man es riskiert, muss es sich auch lohnen“, sagt er.
Bei seiner Rede auf der Landeswahlkonferenz eine Woche später wirkt er deutlich aufgewühlter als in Trappenkamp. „Ihr seid alles, was ich habe, nachdem ich nichts mehr hatte“, sagt er an die Genossen gewandt. Es ist eine emotionale Rede, fast flehend. Vergeblich. 54 Teilnehmer stimmen für ihn, 137 für den ursprünglichen Kandidaten, der von der Parteispitze vorgesehen war: Marc Timmer, ein 50-jähriger Jurist, der im Bereich erneuerbare Energien gearbeitet hat.
Tarek Saad, der Mann aus dem syrischen Bürgerkrieg, der glaubte, in der SPD eine politische Heimat gefunden zu haben, muss einsehen: Die Genossinnen und Genossen entscheiden sich gegen ihn.
Verläuft hier die Grenze der Willkommenskultur – der Moment, in dem es um Einfluss geht?
Spricht man mit Parteimitgliedern über die Platzierung und die Abstimmung, heißt es, einige in der Partei störten sich an Saads Kampfkandidatur. Er sei zu jung dafür, noch nicht lange genug dabei. Enrico Kreft, Mitglied im Landesvorstand, sagt, er halte Saads Kandidatur zwar für gerechtfertigt, glaube aber, er sei mit Platz sieben zu hoch eingestiegen und habe seine Rede zu sehr auf den Fluchtaspekt abgestellt. „Einige Genossinnen und Genossen hat die Emotionalität seiner Rede vermutlich überfordert.“
Woher jemand kommt
Viele verweisen auf die Erfahrung und thematische Expertise des ursprünglich vorgesehenen Kandidaten.
Aber es gibt auch andere Stimmen. Canan Canli vom SPD-Kreisverband Kiel hält eine Fürrede für Saad. Das Ergebnis der Abstimmung habe sie schockiert, wird sie Wochen später in ihrem Haus am Kieler Stadtrand sagen. Vor allem die Eindeutigkeit, mit der die Genossen gegen ihn stimmten.
Canli, in Deutschland als Tochter kurdischer Einwanderer aus der Türkei geboren, sagt, Saad sei nicht nur ein Vorbild für Geflüchtete, sondern auch für Menschen mit Migrationshintergrund in der Partei. „Wir haben uns mit ihm identifiziert. Eine Entscheidung für ihn wäre für uns alle ein Zeichen gewesen, dass wir angenommen werden“, sagt sie. „Plötzlich fragt man sich schon: Spielt es doch eine Rolle, woher jemand kommt?“
Es gibt Politiker und Parteienforscher, die sagen, sie beobachten das häufiger: Parteien schmücken sich mit Kandidatinnen und Kandidaten mit Migrationshintergrund, um sich als divers zu präsentieren. Geht es dann aber ans Eingemachte, setzen sie sie auf aussichtslose Listenplätze. Und geben denen den Vorzug, die in Erscheinungsbild und Biografie der Mehrheit entsprechen.
Aber gilt das auch hier? An der Spitze der SPD Schleswig-Holstein steht Serpil Midyatli, die erste türkischstämmige Abgeordnete im Landtag.
Midyatli sagt, mit der Listenaufstellung werde man niemandem gerecht, außer vielleicht den ersten fünf Plätzen. Man müsse viel berücksichtigen: die Themen, für die jemand steht, das Alter, Geschlecht, die Frage, wie lange jemand in der Partei aktiv ist.
Dass Saad auf Platz 27 gelandet ist, habe mit diesen Faktoren zu tun. „Die haben es schwergemacht, ihn weiter oben zu platzieren.“ Eine besondere Rolle dürfte das Thema spielen, für das Saad steht: Migration. In Schleswig-Holstein, zumindest vor dem Ukraine-Krieg, nicht ganz oben auf der Liste. Ein Thema zudem, von dem nicht wenige fürchten, man könnte sich damit die Finger verbrennen, besonders bei der Wahl.
Auch Saads Fürsprecherin Canan Canli sagt: „Wir sind in der Opposition. Unser Ziel ist es, auf jeden Fall stärkste Kraft zu werden.“
Sie sagt aber auch: „Es wird gebetsmühlenartig behauptet, mit dem Thema Migration gewinne man keine Wahlen. Aber wer sagt eigentlich, dass das wirklich so ist?“ Saad weiter vorne aufzustellen, meint Canli, wäre ein wichtiger Schritt für die SPD in Schleswig-Holstein gewesen.
Er muss es direkt schaffen
Saad selbst klingt seit der Abstimmung verhaltener, wenn er von der deutschen Politik spricht. Aus Sicht der Parteispitze, die eine Wahl gewinnen will, könne er die Entscheidung verstehen. Aus sozialdemokratischer Sicht falle ihm das schwer. „Es geht ja darum, die gesamte Gesellschaft abzubilden.“ Enttäuscht von der Demokratie sei er dennoch nicht. Rückschläge gehörten dazu.
Ein Monat später. Tarek Saad lenkt seinen Opel durch eine Einfamilienhaussiedlung südlich von Bad Segeberg, eine Parallelwelt aus rotem Klinker und sauber gestutztem Rasen. Es ist Mittag, die Straßen sind leer. Saad fährt an den Straßenrand, parkt, langt auf die Rückbank, greift sich einen Stapel Flyer.
Über die Liste kommt er nicht in den Landtag. Also, hat er entschieden, muss er das Ding direkt holen.
Bei der letzten Landtagswahl stimmten rund 20.000 Menschen in seinem Wahlkreis mit der Erststimme für die CDU, 14.000 für die SPD. Die SPD-Wähler will er halten, mindestens 3.000 von den CDU-Wählern auf seine Seite ziehen. Darum ist er hier.
Wieder tritt er gegen einen weißen Mann an: Sönke Siebke, Direktkandidat der CDU. 57 Jahre alt, Landwirt. Bürgermeister einer kleinen Gemeinde, in der schon sein Vater Bürgermeister war.
Doch Saad ist zuversichtlich, und nicht nur er. „Tarek spricht eine andere Klientel an“, sagt etwa die SPD-Landtagsabgeordnete Katrin Fedrowitz. „Menschen, die nahbare Politiker suchen. Und mit dem Ukraine-Krieg wird auch Migration wieder Thema werden.“
Saad erhält inzwischen vermehrt Anfragen dazu. Er wird zu Podien eingeladen, das Deutsche Rote Kreuz will mit ihm die Unterbringung Geflüchteter diskutieren.
Er hat auch die Erstaufnahmeeinrichtung im Wahlkreis besucht. Es ist dieselbe, in der er damals ankam. Jetzt leben geflüchtete Ukrainer dort. „Ein Rollenwechsel“, sagt Saad. Plötzlich fand er sich in der Position eines potenziellen Entscheiders wieder, einer, der Dinge verbessern kann. Etwa die Arbeit der Ehrenamtlichen mehr zu unterstützen.
„Die Ukrainer dürfen nicht in eine Parallelgesellschaft rutschen“, sagt Saad. „Sie brauchen Wohnungen und Jobs. Ihre Situation wird uns die nächsten Jahre beschäftigen.“ Die Willkommenskultur, das sagt er auch, sei momentan so groß wie 2015.
An rund 50 Türen klingelt Saad an diesem Tag. Eine Frau um die 60 sagt, sie habe schon von ihm gehört. Ihre Nachbarin, gleiches Alter, sagt, toll, dass er kandidiert. Ein Mann um die 50 tritt enthusiastisch vor die Tür. Saad sei der erste Politiker, der persönlich bei ihm vorbeikomme, seine Stimme habe er auf jeden Fall. Doch die drei sind die Ausnahme. Die meisten Menschen bleiben eher reserviert.
Nur ein Mann verwickelt ihn in ein längeres Gespräch. Hochgewachsen steht er in seinem Garten, hager, faltiges Gesicht. Eine kleine Schippe in der Hand.
„Bin seit einem Jahr fertig mit der Arbeit“, sagt der Mann. „Hat keinen Spaß mehr gemacht.“ Und dann erzählt er aufgebracht, was schief läuft in diesem Land: Vor 50 Jahren habe dieser Ort nur aus ein paar Häusern bestanden. Und jetzt: alles zugebaut.
„Wenn Leute zu dicht aufeinanderhocken, gibt das nur Probleme“, sagt der Mann, das habe man ja an Corona gesehen. Es gebe schlicht zu viele Menschen. „Deshalb sollte der Staat nach dem zweiten Kind kein Kindergeld mehr zahlen.“
Saad hört freundlich lächelnd zu. Dann setzt er, ruhig und mit Bedacht, zu einer Antwort an. Er erzählt von der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland, vom demografischen Wandel, spricht von Bauverordnungen und Bürgerentscheiden.
„Ich freue mich, wenn Sie mich unterstützen“, sagt er am Ende.
Der Mann schaut kurz irritiert. Es scheint, als habe ihm länger niemand interessiert zugehört.
„Schau’n wir mal“, sagt er dann.
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