Geflüchtetenunterbringung in Berlin: Error 404: System überlastet

Im Mercure Hotel in Friedrichshain-Kreuzberg werden Geflüchtete untergebracht. Trotz enormer Herausforderungen ist die Unterstützung groß.

Geflüchtetenunterkunft im Märkischen Viertel

Die Bedingungen in den Unterkünften entsprechen nicht den Standards eines Jugendhilfeplatzes Foto: Britta Pedersen/dpa

BERLIN taz | Die Atmosphäre im ehemaligen Rathaus Kreuzberg an der Yorckstraße ist immerhin optimistisch am Donnerstagabend. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg hatte zu einer Diskussionsveranstaltung über die Unterbringung von Geflüchteten im Mercure Hotel an der Luckenwalder Straße eingeladen. Und bei allem Optimismus: An Kritik wird trotzdem nicht gespart.

Nicht zuletzt das Hotelmanagement und der Bezirk selbst monieren, vom Betreiber, dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), erst zwei Wochen vor Einzug der 112 Geflüchteten informiert worden zu seien. „Der Bezirk braucht Vorlauf“, kritisiert Oliver Nöll (Linke), stellvertretender Bezirksbürgermeister und Sozialstadtrat.

Absprachen mit dem Gesundheitsamt seien im Vorfeld ebenso nötig wie örtliche Kontrollen, um sicherzustellen, dass die Unterbringung auch im Sinne der Jugendlichen sei. Letzteres etwa hält Nöll in der Luckenwalder Straße nicht für gegeben. Unter den 112 Geflüchteten seien auch 29 Kinder und Jugendliche. Aufgrund der Struktur des Hotels hält er die Unterkunft für sie für ungeeignet.

Das Hotelmanagement sieht sich zugleich überfordert. Ihre Mit­ar­bei­te­r*in­nen seien Fachleute für den Hotelbetrieb, nicht für Geflüchtete mit Traumaerfahrungen. Die kleinsten Aufgaben, wie einen arabisch-sprachigen Arzt in der Gegend zu finden, überfordere sie.

Noch immer keine Sozialbetreuung

Eine große Unterstützung seien immerhin die Mitarbeiter*innen, die selbst als Geflüchtete in den vergangenen Jahren im Hotel ausgebildet worden sind. „Die kennen sich im Hotel aus und wissen aus Erfahrung, was man als Ge­flüch­te­te*r braucht“, sagt eine Hotelmitarbeiterin zur taz.

Die Unterkunft habe jedoch noch immer keine Sozialbetreuung – „was aber dringend notwendig ist“, sagt Oliver Nöll. Zum Januar soll es einen regelmäßigen Sozialdienst der Arbeiterwohlfahrt geben, das reiche aber nicht.

Nöll fordert eine sofortige Unterstützung vom LAF. Er habe Verständnis für deren Überforderung. „Aber die Situation ist für uns so trotzdem nicht haltbar.“ Als Bezirksamt seien sie nicht dafür zuständig, müssten aber die Konsequenzen tragen, weil die Unterkünfte in ihrem Bezirk liegen.

Vom LAF schafft es am Donnerstagabend kei­n*e Ver­tre­te­r*in zu der Veranstaltung. Eine Anfrage der taz bleibt unbeantwortet.

Enttäuschte Erwartungen

Nicht nur die Mit­ar­bei­te­r*in­nen des Mercure Hotels sind überfordert. „Alle Systeme sind überlastet“, sagt Gitta Schleinecke, die in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend, Familie mit dem Bereich der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge betraut ist.

Ihr System etwa sei anfangs für 100 Jugendliche ausgelegt gewesen, inzwischen sei es auf 1.800 Plätze angewachsen. „Das geht mit erheblichen Problemen einher“, so Schleinecke. Mit dem wenigen Personal, das der Senatsverwaltung hierfür zur Verfügung steht, sei eine adäquate Betreuung der Jugendlichen „schwierig bis unmöglich“.

Es käme „öfter zu Krawall“ zwischen Geflüchteten verschiedener Nationalitäten. Vergangene Woche erst hatte es in einer Unterkunft an der Blücherstraße einen Polizeieinsatz gegeben. „Wir tun alles, um der Situation Herr zu werden, aber es ist nicht immer leicht,“ so Schleinecke.

Frustrierend sei für die Ankommenden auch, dass ihre Erwartungen oftmals enttäuscht würden. Die Bedingungen seien besser als in den Erstaufnahmeeinrichtungen, entsprächen aber nicht den Standards eines Jugendhilfeplatzes. Doch auch die Jugendhilfeeinrichtungen sind voll belegt. „Wir haben keine Plätze und sind in extremer Personalnot. Die Kol­le­g*in­nen laufen uns weg“, sagt eine Jugendamtsmitarbeiterin.

Auch psychologische Beratungsstellen, Kindernotdienste und Jugendträger sind überlastet. Eine Mitarbeiterin der Freiwilligenorganisation Karussell beklagt den „chronischen Mangel an Deutschlehrer*innen“. Sie fordert wiederum mehr Unterstützung vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg.

Zivilgesellschaft gefordert

Linke-Politiker Nöll zeigt sich verständnisvoll: „Ich finde die Situation auch nicht befriedigend, ich will sie gar nicht schönreden.“ Der Bezirk arbeitete über seine Grenze hinaus, um die Situation in den Griff zu bekommen, versichert der Sozialstadtrat.

Eine enorme Hilfe sei das große zivilgesellschaftliche Netzwerk in Friedrichshain-Kreuzberg. Dessen Unterstützung werde aufgrund des Fachkräftemangels und der fehlenden Mittel in allen Bereichen dringend gebraucht, sagt Sahra Nell, die Bezirksbeauftragte für Partizipation und Integration.

Ihr Appell: „Unterstützen Sie die geflüchteten Menschen und Familien, indem Sie mit ihnen in Kontakt treten. Gehen Sie mit ihnen Fahrradfahren, organisieren Sie Fußballturniere, begleiten Sie sie zu Ärzt*innen.“ Es brauche Brückenbauer*innen.

Bei aller Schwärmerei für das „tolerante, weltoffene“ Friedrichshain-Kreuzberg rückt in den Hintergrund, dass die Unterbringung Geflüchteter andernorts im Bezirk vor wenigen Monaten für großes Aufsehen in der Nachbarschaft gesorgt hatte. Kurz vor der Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft am Warschauer Platz in Friedrichshain Anfang September hatte die Betreiberin einer gegenüberliegenden Disco in den Boulevardmedien vor einer „Explosion der Fallzahlen“ in der Kriminalitätsstatistik im Kiez gewarnt.

Tatsächlich haben sich die Fallzahlen rund um die Warschauer Brücke seither nicht signifant verändert, so die Polizei auf taz-Nachfrage. Demnach wurden im September mit 97 Straftaten zwar 10 mehr als im Vorjahreszeitraum festgestellt, im Oktober aber mit 95 Taten 5 weniger als im Jahr zuvor. Wie die Polizei denn auch klarstellt, sei „ein unmittelbarer Zusammenhang der Straftatenentwicklung bezüglich der Geflüchtetenunterkunft nicht zu manifestieren“.

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