piwik no script img

Geflüchtete in der TürkeiKeine Heimat in Istanbul

Hassan al-Ali verlässt seine Wohnung aus Angst vor den Polizeirazzien nicht mehr. Der Syrer fürchtet, aus der Türkei ausgewiesen zu werden.

Diese Männer wissen nicht, ob sie wieder zurück nach Syrien müssen. Sie suchten Frieden Foto: reuters

Hassan al-Ali bestellt nur noch Delivery. Das Essen: Delivery, Trinken: Delivery, sogar seine Shisha: Delivery. Seit einem Monat hat er das Haus kaum verlassen, lässt Lebensmittel und alle anderen Gebrauchsgüter anliefern. Vor allem seit die türkische Polizei damit begonnen hat, SyrerInnen zu kontrollieren und diejenigen festzunehmen, die keine gültigen Aufenthaltspapiere besitzen. Seither fürchtet sich Hassan al-Ali, dessen richtiger Name hier aus verständlichen Gründen nicht genannt werden kann, auch nur kurz zum Supermarkt rauszugehen. Denn er weiß: Wenn ihn die Polizei erwischt, bringt sie ihn schlimmstenfalls zurück nach Syrien, in das Land, aus dem er einst geflohen ist.

Mitte Juli haben die türkischen Behörden in Istanbul damit begonnen, gegen SyrerInnen vorzugehen, die keinen legalen Aufenthaltstitel besitzen. Sie kon­trollieren die Menschen auf der Straße, in der Metro, und sie führen Razzien in ihren Wohnungen durch. Sie fragen sogar die Muhtars, wie die inoffiziellen Quartiervorsteher in der Türkei genannt werden, in welchen Häusern SyrerInnen leben, erzählt al-Ali.

Vor rund drei Wochen teilte die Provinzregierung mit, dass alle AusländerInnen ohne einen legalen Aufenthaltsstatus ihren bisherigen Wohnort verlassen müssen. Wer in der Millionenmetropole Istanbul lebt, aber eigentlich in einer anderen türkischen Provinz registriert ist, hat einen Monat Zeit, um dorthin zurückzukehren. Am 20. August läuft diese Frist ab.

Offiziell sind in Istanbul rund 560.000 SyrerInnen gemeldet – doch dazu kommen mehrere Hunderttausend, die anderswo registriert sind oder überhaupt keine Aufenthaltserlaubnis besitzen. Wie viele Menschen bereits aus ihrem Wohnort ausgewiesen worden sind, weiß man nicht: Es sollen mehreren Hundert bis zu einigen Tausend sein.

Was soll ich noch in der Türkei? Die Leute sind erschöpft von dem Leben hier

Hassan al-Ali, Geflüchteter

„Diese Ausschaffungen verstoßen gegen türkisches und internationales Recht“, sagt dazu Ghazwan Koronful, ein Rechtsanwalt und zugleich Vorsteher des Verbands freier syrischer Anwälte. Schon die Razzien in den Wohnhäusern seien ein klarer Rechtsbruch; dafür bräuchte es mindestens einen Durchsuchungsbefehl und den Verdacht auf ein schweres Verbrechen, argumentiert er. Nur zum Zwecke einer Ausweiskontrolle seien solche Razzien nicht rechtmäßig. Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisierte die Rückführungen als illegal.

Abends poltert es an der Tür

Ungeliebt: Syrische Flüchtlinge in der Türkei

Die Registrierung In der Türkei leben nach offiziellen Angaben 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge, und jedes Jahr werden mehrere Hunderttausend syrische Kinder in der Türkei geboren. Offiziell muss sich jeder Flüchtling nach seiner Ankunft registrieren lassen und wird dann einer bestimmten Provinz zugewiesen. Damit bekommt er auch eine Gesundheitskarte, mit der er sich kostenlos im Krankenhaus behandeln lassen kann, und darf eine Arbeitserlaubnis beantragen. Sie durchlaufen kein Asylverfahren, sondern sind Gäste des Staates.

Die Verteilung Tatsächlich klappt die Verteilung über das Land jedoch nicht, die meisten Flüchtlinge leben in einigen Ballungsgebieten. Das sind einmal die beiden Großstädte Gaziantep und Urfa nahe der syrischen Grenze, die Großstädte Mersin, Adana und eben auch Istanbul. Nach Schätzungen des Gouverneursamtes kommen zu den 560.000 offiziell gemeldeten Flüchtlingen fast noch einmal genauso viele nicht registrierte Flüchtlinge in Istanbul dazu. Die Schulen und Krankenhäuser sind damit völlig überlastet, in einigen Vierteln leben wahrscheinlich bereits mehr Syrer als Türken.

Die Ablehnung Seit es mit der Wirtschaft in der Türkei bergab geht und zudem in weiten Teilen Syriens nicht mehr gekämpft wird, wächst in der Türkei die Ablehnung der Flüchtlinge. Doch auch wenn einige Tausend ausgewiesen werden und andere „freiwillig“ zurückkehren, werden die meisten nach sieben Jahren Krieg in ihrer Heimat doch in der Türkei bleiben. (jg)

Es war elf Uhr am Abend. Mohammed al-Hussein und seine Freunde waren gerade erst von der Arbeit in der Fabrik nach Hause gekommen, als es an die Tür polterte, berichtet er. Da sei die Polizei hereingestürmt, wollte die Ausweise der sechs SyrerInnen sehen. Al-Hussein, auch sein richtiger Name kann hier nicht genannt werden, ahnte, was vor sich geht, versuchte zu entkommen und sprang vom Balkon. Er hatte bei seiner Ankunft in der Türkei im Jahr 2016 vergeblich versucht, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Die Wohnung liegt im zweiten Stock, beim Sturz brach er sich den Fuß. Die türkischen Nachbarn sahen ihn – und brachten ihn zur Polizei. „Sie ließen mich nicht einmal zurück nach Hause, um meinen syrischen Ausweis und Geld zu holen“, sagt er. Die Beamten hätten ihn zu einer Polizeistation gebracht. Am nächsten Morgen fuhren sie erst in den asiatischen Teil Istanbuls, von dort aus in einem Bus weiter nach Kilis, ganz im Osten der Türkei gelegen.

Die Stadt liegt an der syrischen Grenze. Zwei Tage hätten sie ihn in ein Stadion gesperrt, zusammen mit etwa Tausend weiteren SyrerInnen, erzählt al-Hussein. Von dort aus sei er ihn in ein Camp gebracht worden. Zum Schlafen ging es dort in einen Container. „Es war heiß, es gab keine Klimaanlage. Zweimal am Tag brachten sie uns ganz wenig zu essen. Es war schrecklich.“

Nach drei Tagen seien die Beamten gekommen und hätten ihn und die anderen Verschleppten im Camp gefragt, ob sie nicht zurück nach Syrien wollten. „Wir haben alle Ja gesagt“, sagt al-Hussein. „Wir wollten nur noch weg von diesem Ort.“ Sie mussten ihre Fingerabdrücke unter ein Dokument setzen, mit dem sie bezeugten, freiwillig zurückzukehren. Und damit stimmten sie zu, während der nächsten fünf Jahre die Türkei nicht zu betreten. Dann brachten die türkischen Soldaten sie an die Grenze und übergaben sie der Freien Syrischen Armee.

Es ist das, was die türkischen Behörden „freiwillige Rückkehr“ nennen. Die Regierung dementiert, dass sie SyrerInnen unter Zwang abschiebt, denn ­damit würde sie gegen die ­Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen. Tatsächlich haben die Rückkehrer ein Dokument unterschrieben, das ihren Rückkehrwunsch bezeugt, so wie al-Hussein. Doch der Rechtsanwalt Ghazwan Koronful betrachtet das eher als einen schlechten Witz: „Freiwillig wäre, wenn ich von mir aus zu den Behörden gehe und sage, ich will zurückgehen“, sagt er. Aber jemanden einzusperren und nur herauszulassen, wenn er nach Syrien geht, habe mit Freiwilligkeit wenig zu tun.

Mahrmals in die Türkei geflüchtet

Dass die Polizei in Istanbul aktiv nach SyrerInnen sucht, die keinen legalen Aufenthalt haben, zeigt, wie prekär die Situation der syrischen Flüchtlinge in der Türkei mittlerweile geworden ist. Doch eigentlich sind die Rückführungen nichts Neues; nur dass sie inzwischen einem offiziellen Dekret folgen und auch jene betreffen, die in der Türkei leben und arbeiten. Nur wer bisher schon versucht hatte, über die Ägäis oder die Grenze nach Griechenland zu fliehen, musste schon seit Monaten damit rechnen, nach Syrien zurückgebracht zu werden.

Das musste auch Hassan al-Ali erfahren. Vor sieben Monaten hatte er versucht, auf die griechischen Inseln zu fliehen. Doch die türkische Küstenwache fing ihn ab. „Sie sagten mir, sie würden mich für ein paar Tage in ein Camp in der Provinz Hatay bringen, um die Formalitäten zu regeln, bevor sie mich wieder gehen ließen“, sagt er. Stattdessen brachten sie ihn zurück nach Syrien. „Als ich meine Eltern anrief und sagte, ich sei in Idlib, konnten die es kaum fassen“, sagt al-Ali. Schon am nächsten Tag sei er zurück in die Türkei geflohen.

Für die Europäische Union, die im März 2016 das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei unterzeichnete, gilt die Türkei als ein sicherer Drittstaat – dies erlaubt es Europa, Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken, die zuvor illegal nach Griechenland geflohen waren. Zwar funktionieren diese Abschiebungen mehr schlecht als recht, doch jetzt, so sieht es zumindest Ghaz­wan Koronful, könne man die Abschiebungen auch juristisch nicht mehr rechtfertigen. „Das Abkommen ist ein Vertrag zwischen zwei Ländern, bei dem das Recht auf Asyl der Syrer komplett übergangen wird“, sagt der Anwalt. Die EU wolle sie nicht haben, die Türkei hält sie von der Einreise in die EU ab. Gleichzeitig wolle die Türkei die SyrerInnen nun ebenfalls loswerden. „Wo sollen wir denn noch hin?“, fragt er rhetorisch.

Seit die Razzien gegen die SyrerInnen begonnen haben, ist Hassan al-Ali entschlossen, die Türkei nun endlich Richtung Griechenland zu verlassen – trotz des Risikos, auf dem Weg erneut festgenommen und abgeschoben zu werden. Das schreckt ihn nicht ab. „Was soll ich noch in der Türkei?“, sagt er. Er sei nicht der Einzige, der so denkt. Einige SyrerInnen versuchten, ein Visum für Ägypten, Algerien oder die Vereinten Arabischen Emirate zu erhalten, berichtet er. Und viele würden sich darum bemühen, über Griechenland nach Europa zu gelangen. „Die Leute sind erschöpft von dem Leben hier“, sagt er.

Mohammed Al-Hussein ist inzwischen in seiner Heimatstadt al-Hasaka im von Kurden kontrollierten Nordosten Syriens angekommen. Er will jedoch so schnell wie möglich zurück in die Türkei. „Hier kann ich nicht arbeiten, ich kann nicht einmal das Haus verlassen“, sagt er. Er ist sowohl von den Kurden als auch vom syrischen Regime zum Militärdienst aufgeboten. „Aber ich will nicht kämpfen. Ich will nur in Frieden und Sicherheit leben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare