Geflüchtete in Griechenland: Gefangen am Grenzfluss
Auch am vierten Tag der türkischen Grenzöffnung ist die Situation für Geflüchtete aussichtslos. Verzweifelt suchen sie nach einem Weg in die EU.
Im Glauben, von den Dorfbewohnern nach Griechenland gebracht zu werden, waren sie in ein Plastikboot gestiegen. Doch die Schleuser setzten sie auf der kleinen Insel ab, die technisch gesehen zur Türkei gehört. Die Gestrandeten versuchen, per Handzeichen um Wasser und Essen zu bitten, manche suchen einen Weg, um von der Insel auf die griechische Seite zu gelangen.
Bis zum griechischen Festland sind es noch 300 Meter, und die Strömung ist reißend. Nach eineinhalb Stunden trifft ein Motorboot der türkischen Seenotrettung ein. Die griechischen Grenzschützer geben sofort Warnschüsse in die Luft ab, als das Boot sich der Insel nähert. Türkische Soldaten treffen auf der gegenüberliegenden Seite ein. Das Boot setzt zurück und nähert sich aus einem anderen Winkel nochmals der Insel. Es nimmt die gestrandeten Menschen auf und bringt sie zurück aufs türkische Festland. Nicht alle wollen in das türkische Boot steigen.
Seit vier Tagen wiederholen sich immer wieder ähnliche Szenen. Seit die türkische Regierung am 28. Februar verkündete, die Weiterreise von Flüchtenden nach Europa nicht mehr verhindern zu wollen, hat eine neue Migrationsbewegung aus der Türkei in die EU begonnen. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu sprach Montagmittag von 117.677 Migrant*innen, die seither die Türkei verlassen haben sollen.
Griechenland macht Türkei Vorwürfe
Die griechischen Behörden halten diese Zahl für unrealistisch. Dennoch hat die griechische Regierung um Unterstützung durch Frontex gebeten, um die Einreise der Flüchtenden zu verhindern. Regierungssprecher Stelios Petsas hat der Türkei vorgeworfen, selbst zu einem Menschenschmuggler geworden zu sein.
An den Haaren herbeigegriffen ist das nicht, denn der öffentlich-rechtliche Sender TRT hat in seinem arabischsprachigen Angebot vor wenigen Tagen eine Karte getweetet, auf der die Ausreiserouten aus der Türkei nach Europa mit Pfeilen eingezeichnet waren. Detailreich wurden die möglichen Routen und einzelnen Ausreisepunkte für den See- und Landweg aufgezeigt. Tausende von Flüchtenden versuchen derzeit, über Edirne, Çanakkale oder Izmir nach Europa zu kommen.
Recep Erdogan, türkei
So wie die beiden syrischen Brüder Walid und Zakariya. An drei verschiedenen Punkten im Umland von Edirne haben sie versucht, die Grenze zu überqueren. Nach dem dritten Misserfolg an einem Tag suchten sie sich ein Nachtasyl im Garten der Gazi-Mihal-Bey-Moschee, eines Prunkbaus aus dem 15. Jahrhundert im historischen Edirne. Sie fanden einen Platz unter den 600 Jahre alten Steintreppen.
Die Moschee aus der Frühzeit des Osmanischen Reiches liegt etwas abseits der anderen Sehenswürdigkeiten der Grenzstadt. Einige Menschen schlafen dort. Walid und Zakariya sind erst vor 15 Tagen aus dem umkämpften Saraqib bei Idlib in Nordsyrien geflohen. Zakariya hat eine Wunde am Fuß und kann sich nur langsam bewegen. Dennoch wollen die beiden Brüder es bis nach Deutschland schaffen: „Sie haben uns gesagt, die Grenze sei geöffnet worden“, erzählen sie. „Wir sind von morgens bis abends am Fluss entlanggelaufen, um einen offenen Grenzübergang zu finden. Es gab keinen. Wir wollen hier weg.“
Ressentiments gegen Syrer*innen
Seit der neuerlichen türkischen Intervention in Idlib, bei der immer mehr türkische Soldaten ihr Leben in Syrien verlieren, eskalieren entsprechend auch die nationalistischen Ressentiments in der Türkei. Walid und Zakariya sind mit zwei anderen syrischen Familien unterwegs. Bevor sie ihr Asyl in der alten Moschee fanden, wurden sie von türkischen Anwohnern beschimpft. Männer mit türkischen Flaggen in der Hand hätten ihnen Beleidigungen hinterhergeschrien, erzählt Walid: „Wir sterben dort für euch, was sucht ihr hier? Warum geht ihr nicht zurück und kämpft?“
Die Türkei fühlt sich in Idlib alleingelassen. Hunderttausende Syrer*innen warten derzeit vor der geschlossenen türkischen Grenze auf Rettung vor dem syrischen Regime. Mit der Grenzöffnung will Staatspräsident Erdoğan diesen Druck nun weitergeben. Am Montag traf sich Staatspräsident Erdoğan mit dem bulgarischen Premierminister Bojko Borissow. Auch ein Telefonat mit Angela Merkel steht aus.
Erdoğan verteidigt seine Politik damit, dass seine jahrelangen Warnungen nicht ernst genommen wurden. „Jetzt, wo wir die Grenzen öffnen, steht das Telefon nicht mehr still“, sagte er in einer Rede am Sonntag. „Alle wollen, dass ich die Grenzen wieder schließe. Aber damit ist jetzt Schluss. Jetzt kriegt ihr auch einen Teil der Last aufgebrummt.“
Stunde um Stunde nimmt die Zahl der hoffnungslos Wartenden am Grenzübergang Pazarkule ab. Die Menschen brechen in die Dörfer der Umgebung auf, um irgendwo einen Übergang nach Griechenland zu finden. Einen Kilometer vor der EU-Außengrenze hat die türkische Gendarmerie Sperren und Kontrollpunkte errichtet. Hier dürfen Flüchtende passieren, manche sollen aber auch an der Weiterreise gehindert worden sein. Journalist*innen werden generell zurückgewiesen. Nach Angaben von Reporter Ohne Grenzen wurden bereits neun Reporter*innen auf der türkischen Seite festgenommen.
Flüchtlinge werden ausgebeutet
Wer den Weg zu Fuß ins Umland antritt, begegnet immer wieder Privatfahrzeugen mit Istanbuler oder Edirner Kennzeichen. Sie warten, um die endgültig Desillusionierten zu völlig überhöhten Preisen ins Stadtzentrum von Edirne zu fahren oder gar nach Istanbul. Denn für viele, die am Grenzübergang gescheitert sind, wird die Großstadt wieder zum Zufluchtsort.
Andere wollen weiter südlich erneut den Übergang nach Europa versuchen. In jedem Fall ist das Grenzgebiet ein irregulärer Wirtschaftsraum geworden, in dem viele Einheimische, die unter der Wirtschaftspolitik der Regierung leiden, von dem Unglück der Migrant*innen zu profitieren versuchen. Dieser Ungeist zieht sich bis in die Dörfer.
In Elçili beispielsweise warten zwei Männer, die sich als „Bauern“ vorstellen, am Flussufer auf Flüchtende und fragen sie, ob sie zufällig übersetzen wollen. Die Frage ist nur eine rhetorische, aber die Männer nennen einen extrem hohen Preis. Für umgerechnet fast 300 Euro nehmen sie eine Person in ihr grünes Schlauchboot.
„Wir bringen euch auch überallhin, wo ihr hinwollt, aber das kostet dann mehr“, erklären die Schleuser. Niemand will für den hohen Preis mit ihnen übersetzen, aber sie warten noch eine Weile auf Kundschaft. Unterdessen kommt die Gendarmerie vorbei. „Keine Sorge, wir sind Einheimische“, sagen die Männer mit dem Schlauchboot. „Wissen wir“, sagen die Gendarmen, „aber geht jetzt bitte hier weg.“ Zu viele Journalist*innen in der Nähe. Die beiden Bauern setzen ihren Spaziergang am Flussufer fort.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“