: Gefährlicher Übereifer
Nur mit Mühe erreichen die deutschen Handballer die EM-Hauptrunde. Vor allem die Abwehr schwächelt
Aus Trondheim Michael Wilkening
Dienstagmorgen hob der Flieger mit den deutschen Handballern an Bord von Trondheim in Richtung Wien ab. Ein Ortswechsel nach der ersten Turnierphase. Spieler und Trainer werden darauf hoffen, dass die Verunsicherung zurückbleibt.
Die malerische Stadt im Norden Norwegens verbindet die deutsche Mannschaft mit keinen guten Erinnerungen – auch wenn das Primärziel, Qualifikation für die Hauptrunde, gemeistert wurde. Bei der 26:33-Niederlage gegen Spanien und dem 28:27-Zittersieg gegen Lettland am Montag gab es keine Anzeichen, dass es in der zweiten Turnierphase in Österreich einen Leistungsaufschwung geben wird.
Die deutschen Handballer waren in den zurückliegenden 15 Jahren nicht immer Teil der Weltspitze. In der Endphase der Ära mit Heiner Brand als Bundestrainer landete die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) bei der EM 2010 auf dem zehnten Rang, die WM 2011 endete auf dem elften Platz. Mit Nachfolger Martin Heuberger verpassten die Deutschen gar die Qualifikation für die EM 2014. Der deutsche Handball war in dieser Zeit weit von den Besten entfernt, besaß aber über die ganze Zeit hinweg ein Qualitätsmerkmal: Die Abwehr in Verbindung mit den Torhütern genügte höheren Ansprüchen.
Im vergangenen Jahr, bei der Heim-WM, schafften es die Deutschen vor allem deshalb ins Halbfinale, weil sie in der Defensive derart unüberwindbar waren, dass der Boulevard von der „Mauer von Berlin“ sprach. Der Innenblock wurde in erster Linie von Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek gebildet, im Tor stand Andreas Wolff – und die Gegner verzweifelten. In Trondheim spielte man in gleicher Besetzung, aber das Resultat war ein völlig anderes. Die Mauer – um im Bild zu bleiben – ist löchrig geworden.
„Wir waren in der Abwehr einfach nicht kompakt“, sagte Wiencek nach dem wackligen Sieg über die Letten. Auch gegen die Spanier zuvor hatten es die Deutschen nicht geschafft, die Abwehrzentrale zu schließen. Das verwunderte, weil das Duo Pekeler/Wiencek eingespielt ist, die Harmonie stimmen sollte. Immer wieder gelang es den biederen Letten, ihren Kreisläufer freizuspielen, immer wieder erspähten sie Lücken im deutschen Abwehrverbund und brachen bis zum Kreis durch. „Alles wirkte irgendwie verkrampft“, sagte Johannes Bitter. Der erfahrene Torhüter vom TVB Stuttgart teilte sich den Job mit Wolff zwischen den Pfosten, blieb aber wie der Kollege blass.
„Wir haben wenig Hilfe von den Torhütern bekommen“, bemängelte Bundestrainer Prokop. Allerdings hatten es die Keeper schwer, weil die Gegenspieler häufig frei vor ihnen auftauchten. Die schlechten Fangquoten von Bitter (24 Prozent) und Wolf (25) im Turnierverlauf sind nicht in erster Linie die Ursache der Abwehrschwäche, sondern eher die Folge.
Die Tatsache, dass die Haupt-Protagonisten der „Mauer von Berlin“ auch in Trondheim Dienst taten, bedeutet, dass kein Qualitätsmangel das aktuelle Problem erklären kann. Vielmehr wirken die Deutschen in der Abwehr übereifrig. Die Spieler wollen oft zu schnell zu viel, stellen sich mit zwei Verteidigern einem Angreifer entgegen und entblößen so zwangsläufig Räume, die der Gegner mit einfachen Pässen nutzen kann.
Gegen Weißrussland am Donnerstag und Kroatien am Samstag wünscht man sich in Wien einen Neuanfang. Eine Niederlage würde die Chancen auf das Halbfinale auf ein Minimum schrumpfen lassen. Bundestrainer Prokop zählt auf Unterstützung von außen: „Wir hoffen auf viele deutsche Fans, die werden wir brauchen. Das ist wichtig für die Emotionalität.“
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