Gedenkstätten-Leiter über Pflichtbesuche: „Die nicht wollen, müssen nicht“
Pflichtbesuche sind kein Allheilmittel: Jens-Christian Wagner von der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen setzt auf Freiwilligkeit und Betreuung statt Führungen im Akkord.
taz: Gerade flammt die Diskussion um Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten wieder auf – zu Recht, Herr Wagner?
Jens-Christian Wagner: Nein. An den Argumenten hat sich ja nichts geändert und ich stehe solchen Zwangsführungen nach wie vor kritisch gegenüber. Ich habe den Eindruck, dass immer dann, wenn wir Probleme mit Antisemitismus haben, geradezu reflexhaft gefordert wird, die entsprechenden „Problemgruppen“ sollten zwangsweise in die Gedenkstätten geführt werden. Aber die Zwangsbesuche sind eine allzu leichte Forderung.
Inwiefern?
Es ist völlig richtig, dass wir uns mit dem Problem des Antisemitismus und Antizionismus bei muslimischen Zuwanderern beschäftigen. Aber man muss dazu sagen, dass dabei ein Generalverdacht mitschwingt. Und zweitens gibt es das Problem des Antisemitismus ebenso bei Herkunftsdeutschen.
Wobei die Forderung ja für alle erhoben wird.
Aber auch das halte ich für eine naive Vorstellung.
Was ist daran so naiv?
Weil man offensichtlich davon ausgeht, dass der Besuch einer KZ-Gedenkstätte als demokratische Läuterung funktioniert. Das ist nicht so. Unsere Erfahrung in den Gedenkstätten ist, dass das klassische Format einer Kurzführung, und das verstehe ich erst einmal unter einem Besuch, didaktisch weitgehend nutzlos ist. Vorgefertigte Meinungen werden durch solche Besuche nicht geändert. Wir haben ja auch das Phänomen der Bekennerbesuche.
Wer bekennt sich da?
Bekennende Neonazis gehen in eine Gedenkstätte, nicht um die Verbrechen zu leugnen, sondern um dort ihren Stolz darüber auszudrücken. Diese Leute werden durch den Besuch gar nicht davon abgehalten. Was wir also machen müssen, ist eine qualitative Verbesserung der Betreuung.
Wie sieht die aus?
Jens-Christian Wagner, 51, seit 2014 Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten.
Es ist eine intensivere Form der Betreuung, also möglichst keine Kurzführungen, sondern Projekte über einen oder sogar mehrere Tage hinweg. Außerdem geht es um zielgruppenorientierte Formate und drittens geht es darum, den sogenannten Beutelsbacher Konsens hochzuhalten.
Den kennen die wenigsten.
Das war das Ergebnis einer Tagung über die Grundvoraussetzungen politischer Bildung vor 40 Jahren, nämlich: Kontroversitätsgebot, Überwältigungsverbot und das Gebot der Freiwilligkeit.
Von wie viel Freiwilligkeit kann man denn sprechen, wenn ein Lehrer beschließt, dass seine Klasse nach Bergen-Belsen fahren soll?
Es bleibt mit Sicherheit eine gewisse soziale und schulische Erwartungshaltung und das ist ein Problem, das uns bewusst ist. Wir diskutieren das mit den LehrerInnen im Vorfeld, nach Möglichkeit fordern wir sie auf, das diejenigen, die nicht mitkommen wollen, das auch nicht tun müssen. Meine Mitarbeiter sind dazu angehalten, vor der Betreuung – wir nennen das bewusst nicht Führung – noch einmal zu fragen. Es ist auch schon vorgekommen, dass einzelne sagen, „wir wollen das nicht“, und dann im Bus bleiben oder spazieren gehen.
Sind dass nicht gerade diejenigen, die am dringendsten hineingehen sollten?
Das mag sein, aber wenn sie gegen ihren Willen damit konfrontiert werden, ist es didaktisch nicht sinnvoll.
Die didaktisch nicht sinnvollen Kurzführungen gibt es in vielen Gedenkstätten.
Sie sind billiger und erfordern weniger Raum und Personal. Bereits jetzt, ohne verpflichtende Besuche, haben wir in allen Gedenkstätten Deutschlands damit zu kämpfen, den Wünschen nach Betreuung nachzukommen. Obwohl die Förderung von Gedenkstätten-Besuchen etwa in Niedersachsen deutlich erhöht wurde.
Wenn Sie nicht überwältigen wollen – wie erreichen Sie die SchülerInnen?
Überwältigen ist etwas anderes als veranschaulichen. Und gerade weil wir zunehmend digitaler unterwegs sind, merken wir einen Wert des Haptischen und Greifbaren. Wir versuchen rezipientenbezogen zu arbeiten und den Hintergrund der BesucherInnen ernst zu nehmen. Wenn Flüchtlinge mit möglicherweise traumatischen Erfahrungen kommen, ist das etwas anderes als beim Bauern aus dem Nachbardorf.
Gibt es dazu schon Konzepte?
Wir haben in Bergen-Belsen Formate, die auf den ersten Blick gar nicht die Geschichte des Konzentrationslagers in den Fokus nehmen. Sondern das Lager für Holocaust-Überlebende, die wegen der restriktiven Einwanderungsbestimmungen in den USA und Palästina gezwungen waren, noch lange im Land der Täter zu leben. Das ermöglicht andere Bezüge für Flüchtlinge, die in einer ähnlichen Situation in Auffanglagern gelebt haben – ohne da leichtfertig historische Analogien herzustellen.
Womit man bei der Gretchenfrage endet: Wie prüfen Sie eigentlich, welche pädagogischen Konzepte wirksam sind?
Es gibt ein paar wissenschaftliche Arbeiten dazu, aber eine Evaluation der Erkenntniserweiterung durch einen Gedenkstättenbesuch wird man ganz schwer machen können. Was wir in den Gedenkstätten merken, wenn wir praktisch mit den Gruppen arbeiten: wann man sie hat.
Wann hat man sie denn?
Wenn interessante Fragen kommen, wenn die Gesichter nicht auf die Uhr gerichtet sind, sondern man sie mit dem Kopf und dem Herzen hat. Wir wollen keine Bekenntnis-, sondern Erkenntnisbesuche.
Wie oft begegnen Ihnen die BesucherInnen, wo es keine Erkenntnisse gibt, sondern Selfies?
Ich war neulich in Auschwitz-Birkenau, da standen Dutzende Menschen vor dem Lagertor, durch das früher der Zug gefahren ist. Sie haben sich fotografiert wie etwa in Weimar vor dem Goethe-Schiller-Denkmal. Das sind dann touristische Trophäen. So etwas passiert. Wenn Leute sich gegenseitig mit Hitlergruß fotografieren oder mit heruntergelassener Hose vor den Verbrennungsöfen, holt man die Polizei.
Nimmt das zu?
Nein, das bleibt sich gleich. Wenn es noch nicht justiziabel ist, sprechen wir die Leute an. Aber die sehr große Mehrheit der Besucher verhält sich angemessen und augenscheinlich historisch bewusst. Und das gilt für alle Gruppen.
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