Gedenkräume im Netz: Abschied am Laptop
Trauern wir künftig nur noch im Netz? Nein. Für die Gesellschaft können Online-Gedenkräume aber ein Angebot sein.
Mitten im Raum steht ein Ahornbaum. Daneben, unter den rötlich schimmernden Blättern, blickt eine lächelnde Frau in den kahlen Innenraum der hellen Halle. Durch die Öffnung der Kuppel fällt Licht auf Bänke aus Stein, die hintereinander aufgereiht sind. Wände, Decke und Boden sind hellgrau, geradezu industriell. Farbliche Akzente setzen bis auf den Baum nur die im Raum verteilten Bilder.
So wie das der lächelnden Frau. Wirft man den Blick nach links, entdeckt man neben ihr auch einen Prominenten wie Eckart von Hirschhausen. Er sitzt auf der Bettkante neben der Frau, die dazu schreibt: „Erfüllung des großen Wunsches auf meiner Löffelliste“, eben Hirschhausen kennenzulernen, bevor es zu spät ist.
Der Raum ist eine Kathedrale der Erinnerung, durch die vielen Bilder und Worte mit Leben und Farbe gefüllt. Durch die Kuppel dringt Licht ins Innere, draußen scheinen Wolken vorbeizuziehen. Scheinen: Denn das hier ist nicht real. Die Erinnerungen befinden sich in einem digitalen Raum, den man mit wenigen Klicks im Internet finden kann.
Nicht zuletzt die Coronapandemie hat gezeigt, dass sich fast alles ins Digitale verlagern kann. Schulunterricht, Meetings, ja sogar Arztbesuche finden per Videokonferenz statt. Die Vorteile: Orts- und Zeitunabhängigkeit. Das möchte auch Lilli Berger für ein Thema nutzen, das für uns alle im Leben früher oder später relevant ist: Trauer.
Mehr als virtuelle Kerzen und Gästebucheinträge
Berger ist Bestatterin und Gründerin von Farvel, einer Plattform für virtuelle Trauerräume. Mit 14 Jahren machte die heute 31-Jährige ihr erstes Praktikum bei einem Bestattungsunternehmen. „Ich habe mich immer gefragt, was ist eigentlich dieser Tod, von dem niemand spricht und vor dem jeder Angst hat?“, sagt sie.
Nach ihrer Ausbildung zur Bestatterin zieht es Berger an die Universität. Und auch in ihrem Leadership- und Kommunikationsstudium nimmt das Thema Trauer viel Raum ein. Schnell merkt sie: Digitalisierung ist in der Branche noch nicht angekommen, die Trauerbewältigung findet vor allem analog statt.
Eine Tatsache, die viele vermutlich weder verwundert noch stört: Schließlich ist der Tod ein gern verdrängtes Thema. Zumindest so lange, bis man damit konfrontiert wird. Getrauert wird dann oft traditionell: Abschied mit Trauerrede und Bestattung. Berger geht das nicht weit genug. Ihre Vision: Das Trauern zeitgemäß gestalten, für eine Generation, die im Internet zu Hause ist und immer internationaler wird.
So bewirbt es die Gründerin zumindest auf ihrer Webseite. Hinter den Marketingsprüchen verbirgt sich eine Grundidee: im Digitalen zusammenkommen. Denn Familie, Freund*innen und Studienort – das alles ist längst nicht mehr selbstverständlich in räumlicher Nähe. Um in Kontakt zu bleiben, brauche es digitale Angebote.
Was es bislang gibt, sind altbackene Internetforen, in denen virtuelle GIF-Kerzen angezündet und Gästebucheinträge verfasst werden können. „Was hier zu kurz kommt, ist das Gefühl von Nähe und der Austausch durch persönliche Gespräche“. Berger möchte genau das ändern. Gemeinsam mit ihren Mitgründer*innen Jennifer Beitel und Markus Traber baut sie ab 2020 ein sogenanntes Deathtech-Start-up auf. Dafür erstellt sie virtuelle, barrierefreie Erinnerungsräume, die Besucher*innen wie ein Computerspiel betreten können. Via Smartphone, Laptop oder VR-Brille. Wenn man den Raum aufruft, kann man sich mit VR-Brille oder Tastatur in ihm bewegen und die Erinnerungsstücke betrachten.
„Im Grunde braucht es nur zwei Klicks“
Zurück in die große Halle, wo noch immer die Blätter des Ahornbaums im Licht schimmern. „Es ist für mich jedes Mal sehr bewegend und berührend, im Erinnerungsraum zu sein“, schreibt Mandy. Mandy ist die lächelnde Frau, die überall im Raum zu sehen ist. „Das eigene Leben verewigt in Bildern zu sehen, die Kommentare der lieben Besucher zu lesen und ab und an sogar gerade jemanden zu treffen und kurz zu reden, ist wirklich immer wieder faszinierend“, sagt sie.
Mandy, die ihren Nachnamen nicht in dieser Zeitung lesen möchte, ist 40 Jahre alt und kann aufgrund mehrerer Herzerkrankungen nicht mehr das Haus verlassen. Für sie ist ihr Trauerraum etwas ganz Besonderes. „Die Verbundenheit, die mir mein ganzes Leben hinaus so wichtig ist, kann weiterhin bestehen“, schreibt Mandy der taz. Sie schreibt, weil ihr das Sprechen zu schwer fällt. Denn: Mandy wird sterben. Mit ihrer Diagnose geht sie offen um. Besonders im Internet. Auf Instagram folgen ihr knapp zehntausend Menschen. Sie folgen, spenden Trost, denken an sie.
Schon in der Anfangsphase sei Mandy auf das Team von Farvel zugekommen. Seitdem ist viel passiert. Mandys Erinnerungsraum ist mit Bildern, persönlichen Nachrichten und sogar Sprachmemos gefüllt. Jede*r kann ihn betreten und die Erinnerungen erleben. Dass Mandy ihren eigenen Trauerraum besuchen kann, ist etwas Besonderes. Ursprünglich sei die Idee von Lilli Berger und ihrem Team gewesen, einen Raum für die Angehörigen der Trauernden zu schaffen.
Mit einer VR-Brille fühlt es sich an, als laufe man durch den Raum. Die Geräusche kommen aus unterschiedlichen Richtungen, Unterhaltungen etwa hört man nur, wenn man sich wirklich virtuell gegenübersteht. Für viele ist jedoch die Schnelligkeit der technologischen Entwicklung überfordernd. Alles verlagert sich in die digitale Welt. Wie soll getrauert werden, wenn wichtiges Know-how fehlt? Berger sagt: „Es gibt eine große Barriere. Menschen, die noch nie in einem digitalen Raum waren, wissen gar nicht, wie viel Potenzial das hat.“
Besonders nutzer*innenfreundlich sollen die Räume durch die leichte Bedienung sein. „Im Grunde braucht es nur zwei Klicks. Man kann unsere Webseite besuchen und die Räume betreten.“ Eine VR-Brille etwa sei nicht notwendig, mache die Erfahrung aber intensiver. Die Besucher*innen können sich auch einen Avatar zusammenstellen, also ein äußeres Erscheinungsbild, das ihrem realen Ich ähnlich sehen kann, aber nicht muss.
Trauern bald also nur noch digital?
Trauern wir zukünftig also nur noch in der digitalen Welt? Klare Antwort: Nein. „Die Idee ist nicht, einen Ersatz zu schaffen, sondern ein Zusatzangebot. Für all diejenigen, die nicht zur Trauerfeier kommen können, die im Nachgang einen Raum brauchen, wo sie erinnern können“, sagt sie. Berger möchte Farvel als Produkt für Unternehmen aus der Branche anbieten, also etwa Bestatter*innen. Es geht nicht darum, bestehende Traditionen und Trauerrituale abzulösen. Besonders bekannte Rituale sieht Berger als wichtig an. „In ritualisierten Abläufen liegt Halt und Struktur. Wie im Vaterunser, das viele mitsprechen können.“ Das bestätigt Hansjörg Znoj, Professor für Klinische Psychologie an der Universität Bern. „Rituale dienen hauptsächlich dazu, den Verlust fassbar zu machen, ihm eine Form zu geben“, sagt Znoj, der zu Trauer forscht. Wie schätzt der Experte das Potenzial von digitalen Trauerräumen ein?
„Das Kommunikationsverhalten hat sich durch die digitalen Angebote und Messengerdienste, soziale Medien allgemein, verändert.“ Znoj glaubt, dass digitalen Trauerräumen eine wachsende Bedeutung zukommen könnte. „Ich bin allerdings etwas skeptisch, dass diese ausreichen, um wirklich Trost zu spenden.“ Zudem fehlen in dem Bereich noch Studien und Daten „Da muss dann jede und jeder selbst entscheiden, ob das Angebot passt oder nicht“, sagt er. „Trauernde sind ja nicht urteilsbeeinträchtigt.“
Andere digitale Angebote könnten jedoch eine mögliche zukünftige Stoßrichtung anzeigen, sagt Znoj. So könne etwa Online-Therapie einen ganz ähnlichen Effekt haben wie eine Sitzung, die in Präsenz stattfindet. Das sieht er als „Hinweis darauf, dass auch digitale Trauerräume einen hilfreichen Effekt haben könnten“.
Einen gemeinsamen Rückzugsort zu haben, der mit schönen Erinnerungen gefüllt ist und sich vertraut anfühlt – das gibt auch Mandy Halt. Zu einer dieser Erinnerungen trägt Trauerrednerin Mel Breese bei. „Für Mandy habe ich eine Trauerrede geschrieben und als Hörbuch eingesprochen“, erzählt Breese. Mandy habe sie sich bereits angehört.
Wenn es so weit ist, wird die Rede als Audiodatei in ihrem Trauerraum platziert, wo sie dann jede*r abspielen kann. Für alle, die sich an Mandy erinnern möchten, an Verbindungen, die keinen physischen Kontakt brauchen, nie einen hatten und auch nicht bekommen werden.
Doch da gibt es eben diesen einen Ort, an dem alle zusammenkommen können. Und an denen Mandy mit allen zusammenkommen kann. Auch wenn sie aufgrund ihrer Krankheit zu schwach ist, um das Haus zu verlassen oder jedem einzeln auf Instagram zu antworten.
Die Rede ist von ihrem Raum mit dem Ahornbaum in der Mitte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels