Gedenken an den Holocaust: Sich neu erinnern
Die Zeitzeugen sterben. Bei der Jugend wächst das Gefühl, nichts mit der Shoa zu tun zu haben. Wie Gedenkstätten die Erinnerung aktualisieren.
Eigentlich ist das Shoah-Gedenken längst ein Selbstgänger in guten Sinne. Rituale sind installiert, Betroffenheit zu wiederkehrenden Jahrestagen ist Konsens, nachdenkliche Reden wider den neuen, alten Antisemitismus und Antiziganismus auch. KZ-Gedenkstätten und -dokumentationszentren bieten Führungen und Workshops für Lehrer, Polizisten, Verwaltungsbeamte, für Täter- wie Opfernachkommen und melden stabile bis steigende Besucherzahlen.
Und doch – wenn man an die Gedenkorte geht und mit deren Leitern spricht, spürt man: Es verändert sich etwas. Da ist nicht nur die Gauland’sche Relativierung des Holocaust. Da sind auch Schüler, die – teils von AfD-nahen Lehrern angestiftet –. wie neulich in Bergen-Belsen, das einstige KZ mit den Rheinwiesenlagern vergleichen. Das waren 1945 errichtete US-amerikanische Kriegsgefangenenlager entlang des Rheins mit einigen Tausend Toten.
„Die Provokateure in unseren Führungen führen – echte oder erfundene – historische Studien an, aus denen hervorgehe, dass die Verhältnisse in den Rheinwiesenlagern schlimmer waren als in Bergen-Belsen“, sagt Jens-Christian Wagner, Chef der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten.
Auch auf die Opferzahlen richtet sich deren Zweifel: Das in Bergen-Belsen 1946 von jüdischen Überlebenden aufgestellte Mahnmal erwähnt 30.000 dort ermordete Juden, während es eigentlich 25.000 bis 26.000 waren. „Dann sagt der Provokateur:,Auf dem Mahnmal werden 5.000 Tote zu viel genannt. Da sieht man wieder, wie in der Gedenkstätte Geschichte gefälscht wird'“, berichtet Wagner. „Mit solchen Scheindebatten versuchen Einzelne immer wieder, Führungen zu sabotieren.“
Die moralische Autorität der Zeitzeugen schwindet
Gleichzeitig sterben die letzten Zeitzeugen. Ihre Interviews sind längst auf Videos festgehalten, aber mit ihrem Sterben wird die moralische Autorität dieser Generation im öffentlichen Diskurs fehlen. Dann bleiben nur noch die Orte als authentische Zeugen. Die sind im Westen meist abstrakt und leer geräumt, weil die SS-Wachmannschaften – anders als etwa im damals von Deutschen besetzten Polen – bei Kriegsende genug Zeit hatten, Spuren zu vernichten, bevor die Armeen der Alliierten heranrückten.
Welche Rolle werden physische Gedenkstätten künftig überhaupt noch spielen? Wie soll man ein Gespür für die Würde dieser Orte nationalsozialistischen Massenmordes erzeugen?
Ja, das Verhalten Jugendlicher sei oft problematisch, hört man nicht nur aus der KZ-Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg, sondern auch vom belgischen Gedenkort Kazerne Dossin, einem einstigen Sammellager für Juden. Folgerichtig also, dass Gedenkstätten in In- und Ausland derzeit Hausordnungen erarbeiten, die angemessene Kleidung und ebensolches Verhalten einfordern. Dabei ist Respektlosigkeit vor Ort wohl nicht nur Ausdruck jugendlicher Rebellion gegen verordnete Betroffenheit. Mit der zeitlichen Distanz zur Shoah wächst auch das Gefühl, dass das alles nichts mit uns zu tun habe.
Dabei sind Jugendliche die zentrale Zielgruppe der Gedenkstätten. Um sie bemüht man sich intensiv mit Projekten, inklusiven Fahrten, in Filmprojekten oder Recherche-Seminaren zur eigenen Familiengeschichte. Manch einer erfährt dabei, dass die Urgroßeltern in Riga, Minsk oder anderswo von Nazis ermordet wurden, und will fortan nicht mehr darüber schweigen.
Gedenkstätten wollen das lange dominante Narrativ anonymer Opferzahlen nun immer stärker um Einzelschicksale bereichern. Sie zoomen näher an die Folgen der Ausgrenzung heran, weil Mikrogeschichte mehr Empathie und Reflexion generiert, so die Hoffnung.
Allerdings, das – selbstredend unverzichtbare – Opfergedenken ist ambivalent: Viele Deutsche hätten sich derart mit den Opfern identifiziert, dass sie vergäßen, dass sie zum Volk der Täter gehörten, sagt Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Um gegenzusteuern hat man dort Seminare für Opfer- und Täternachkommen eingerichtet, die sich auf Wunsch auch begegnen. Die Workshops sind stets langfristig ausgebucht und bezeugen: Gedenkstätten und Zivilgesellschaft beginnen den Blick zu weiten, hin zu den Ursachen des millionenfachen Leids: den – nach 1945 kaum belangten – Tätern, Mitläufern, Profiteuren.
Dabei geht es nicht darum, den Besuchern Kollektivschuld einzuimpfen, wie der rechtsextreme Videoblogger und Ex-Grundschullehrer Nikolai Nerling gern unterstellt, der 2019 wegen Volksverhetzung verurteilt wurde. Ziel ist vielmehr das Benennen der „ganz normalen“ Akteure, wie schon in den Wehrmachtsausstellungen zwischen 1995 und 2004 geschehen.
Da geht es nicht nur um Soldaten – ganz normale Männer –, sondern auch um Nachbarn, die Juden denunzierten, um deren Job oder Wohnung zu bekommen. Um Menschen, die sich bei der Versteigerung von Möbeln und Hausrat der deportierten Nachbarn bedienten oder jüdische Freunde plötzlich nicht mehr auf der Straße grüßten. Denn Ausgrenzung, Täterschaft und Mitläufertum passierten im Alltag, mitten in der Gesellschaft.
Das NS-Regime hatte einen Mainstream der Ausgrenzung erzeugt, dem die „kleinen Leute“ ähnlich opportunistisch folgten wie Industrielle und Behörden. In aller Öffentlichkeit spaltete sich da die Zivilgesellschaft, viele sahen die offenen Lkws, die Juden mitten durch die Stadt zum Deportationsbahnhof brachten. „Vor aller Augen“ lautet deshalb das Konzept, mit dem die Gedenkstätte Neuengamme das 2023 eröffnende Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof betreiben will.
Täter im Fokus
Der einstige Deportationsbahnhof liegt mitten in Hamburgs exklusiver Hafencity und zeigt bereits Gedenktafeln für die über 8.000 Deportierten. Dass im ergänzenden Doku-Zentrum die Täter im Fokus stehen werden, ist auch eine Kompensation dafür, dass Hamburgs Senat beim Verkauf des Stadthauses – Ex-Gestapo-Zentrale – kein angemessenes Gedenken festschrieb und nun mit einer Minimallösung des Investors leben muss. Die neuen „Stadthöfe“ mit Exklusiv-Hotel sind eben, wie der einstige Wiener Deportationsort Aspangbahnhof, eine attraktive Immobilie in einem zu „entwickelnden“ Quartier und aus Kapitalistensicht viel zu schade fürs Gedenken.
Im weißrussischen Minsk, wohin etliche Hamburger deportiert wurden, verhinderte die Politik dagegen lange ein umfassendes Gedenken im „Erschießungswald“ Maly Trostenez, weil sie nur an die Minsker Juden erinnern wollte, nicht aber an die westeuropäischen Opfer. Inzwischen bindet eine österreichische, von Nachkommen der Opfer gegründete Privat-Initiative Gedenkbänder an die eine Hälfte der Bäume und die Stadt Minsk an die andere; so ist beiden Opfergruppen Genüge getan.
Im Ex-Lager Gut Jungfernhof bei Riga wiederum ist heute ein bei potenziellen Investoren beliebter Park ohne Mahnmal. Aber wenn erst mal das dort vermutete Massengrab gefunden sei – ein US-Professor werde das bald mit einem Spezialdetektor versuchen – werde es wohl nicht überbaut, sagte Ilja Lensky vom Rigaer Museum Juden in Lettland auf einer Hamburger Tagung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Die Konferenz verstand sich transnational und nahm auch Zielorte Hamburger Deportationen in den Blick, die oft mit grundlegenderen Problemen kämpfen als westliche Gedenkstätten. Nur weil der Stadtrat im polnischen Lódż nicht regierungsnah, sondern liberal ist, kann zum Beispiel die Gedenkstätte des einstigen Gettos Litzmannstadt Seminare zur demokratischen Bildung anbieten und mit Anti-Homophobie-Aktivisten kooperieren, berichten Mitarbeiter. Im zentralpolnischen Chełmno, dem einstigen KZ Kulmhof, das fast niemand überlebte, arbeiten sich Seminaristen dagegen an Broschen und Löffeln ab, die einzig vom Lager übrig blieben. Weiter gedieh die pädagogische Arbeit noch nicht.
Workshops statt Führungen
Die Frage ist allerdings, ob es westlichen Gedenkstätten trotz Partizipationsangeboten wie multimedialen Recherchetools gelingt, Menschen für Ausgrenzungsmechanismen und Handlungsspielräume in einer Diktatur zu sensibilisieren. Das derzeit entstehende hannoversche ZeitZentrum Zivilcourage etwa will für Jugendliche Workshops statt Führungen anbieten. „Wir lassen uns von ihren Fragen leiten“, sagt Mitarbeiterin Wiebke Hiemesch.
Das ist sehr basisdemokratisch und selbstermächtigend gedacht. Aber wenn die Schüler wichtige Fragen zufällig nicht stellen, werden ihnen zentrale Fakten vorenthalten. Bedeutet das nicht schon wieder den Ausschluss von Bildung?
Ja, es sei schwierig, komplexe Fragen niedrigschwellig – sei es in leichter Sprache, sei es in extrem kurzen Texten – zu vermitteln, räumt Elke Gryglewski von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz ein. „Es gibt Sachverhalte, die man nicht weiter herunterbrechen kann“, sagt sie. Außerdem sei es in der Reduktion schwer, mit Mythen zu brechen.
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