Gedanken am Sterbebett: Weniger Abstand zwischen Leben und Tod
Über verkrampfte Begegnungen am Sterbebett, letzte Gedanken übers Berghain und Gespräche mit geliebten Menschen, die schon im Jenseits sind.
W ie möchtest du sterben? Blöde Frage. Sie denkt das Leben vom Ende her. Wie wäre es, den Tod als Fortsetzung des Lebens zu begreifen? Und sich jetzt schon zu fragen: Was willst du gedacht haben auf deinem Sterbebett? Ich war in letzter Zeit öfter dort – am Sterbebett. Und jedes Mal stellte ich mir diese Frage. Würde ich denken: Wäre ich doch öfter im Büro gewesen?
Im Mittelalter sind Leute monatelang gestorben. Wenn jemand im Sterben lag, wurde ein Schild aufgestellt und alle Verwandten kamen, um die Sterbenden zu verabschieden. Für sie war das ein Ritual. Etwas ganz Normales.
Und heute? Keine Ahnung, reisen gestresste Familienmitglieder aufwändig zum Hospiz und wissen dann nicht, was sie sagen sollen. Haben ein schlechtes Gewissen. Realisieren, was sie alles verpasst haben. Was ihnen alles wichtiger war als die sabbernde Person, die sie hier zum letzten Mal sehen. Sind gelähmt von der Zeit, die sie überlistet hat.
Stammeln sich was zusammen. Machen den Sterbenden das Sterben schwer, anstatt mit ihnen zu viben. Mit ihren letzten Gefühlen, wenn sie überhaupt noch welche haben. Die denken doch dann nicht: ich war zu wenig im Büro oder zu viel. Eher: War ich zu wenig im Berghain? Hätte ich mehr Beyoncé feiern sollen? Backpacking in Georgien machen? Oder aufhören, Missstände jenseits meines Einflusses zu enttarnen, als rituelle Symbolpolitik für das gute Gewissen?
Sprechen mit den lieben Menschen im Jenseits
Womöglich würden sie eher denken: Schwester, bitte absaugen. Oder: Bruder, bitte wechsel meine Windeln. Oder: Frau Doktor, bitte noch einen Schuss von diesem Zeug gegen die Schmerzen. Oder: Mein Schatz, hast du einen Parkplatz gefunden? Oder: Warum sind meine Besucher so furchtbar verkrampft, als müssten sie das Tragen der Schuld an allem Übel dieser Welt performen?
Seltsam, dass ich mich fast genauso an das Sterben einer geliebten Person erinnere wie an ihr Leben. Es heißt, Trauer sei Liebe, die nicht weiß, wo sie hinsoll. Doch ich weiß genau, wo sie hinsoll: ins Leben, ins fucking Leben.
Ich finde, zwischen Leben und Tod sollte es viel weniger Abstand geben. Manchmal habe ich das Gefühl, Sterben ist kein Übergang, es ist immer da. Läuft im Hintergrund, wie ein Betriebssystem im Ruhemodus, still, aber immer bereit.
Deshalb spreche ich manchmal mit den lieben Menschen, die ich jüngst verloren habe. Wie ist es bei dir? Vermisst du mich? Vermisst du dich? Hast du aufgehört, du zu sein? Wie ist es, ein Kompromiss zu sein aus allen, die dich kannten? Seitdem du weg bist, fühle ich alles. Alles, was du dich zu fühlen nie getraut hast, weil dein Nachkriegskörper erzogen wurde zu einem Panzer gegen die Welt.
Was hast du damals gedacht?
Ich bin von allem berührt, selbst von diesem Hund auf der Straße, der zufällig mein Bein streift. Oder dem Menschen im Supermarkt, der genauso geht wie du.
Und du so, du schöner toter Mensch? Was hast du gedacht auf dem Sterbebett, als ich dich anlächelte, während ich gequält versuchte, nicht zu weinen? Was, findest du, soll ich dort gedacht haben?
Vielleicht das, was ich schon jetzt ahne: Ich war alles, was mir begegnete – auch ihr, auch dieser Text hier, auch die Lüge, dass am Ende alles Sinn ergibt. Keine binäre Erlösungsfantasie nötig. Änderungswünsche nehme ich nicht mehr an. Küsse und bis bald.
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