: „Gaza hat die westliche Glaubwürdigkeit untergraben“
Aus globaler Perspektive sei der Gazakrieg eine größere Zäsur als Russlands Angriffskrieg, sagt der indische Schriftsteller Pankaj Mishra. Deutschland und Europa hätten ihre Führungsrolle verloren

Interview Daniel Bax
taz: Herr Mishra, in Deutschland gilt der russische Krieg gegen die Ukraine als „Zeitenwende“. Sie sehen das anders, warum?
Pankaj Mishra: Für viele Menschen außerhalb Europas und der USA ist dieser Krieg kein Wendepunkt. Russland fühlt sich schon lange von der Nato bedroht und dass es unter einem zunehmend paranoiden Präsidenten wie Wladimir Putin in die Ukraine einmarschiert ist, um ein Exempel zu statuieren, kam nicht überraschend. Das hat sich lange angebahnt.
taz: Putin griff ein unabhängiges Land an und verschiebt Grenzen mit Gewalt. Das ist ein Angriff auf eine Weltordnung, die auf dem Völkerrecht gründet. Das soll keine Zäsur sein?
Mishra: Keine Frage, das ist ein Verbrechen. Aber es gibt noch ein anderes Land, das seine Grenzen mit Gewalt verschiebt, seine Siedlungen im illegal besetzten Westjordanland seit Jahren ausbaut und weitere Gebiete im Gazastreifen, im Libanon und in Syrien besetzt. Deutschland unterstützt diesen Staat und ist sein zweitgrößter Waffenlieferant. Wie bringt es das mit seiner angeblichen Sorge um das Völkerrecht unter einen Hut?
taz: In Ihrem Buch „Die Welt nach Gaza“ beschreiben Sie den Krieg in Gaza als den eigentlichen globalen Wendepunkt. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Mishra: Das Russland unter Wladimir Putin ist kein Land, zu dem irgendjemand in der Welt je aufgeschaut hat, wenn es um internationale Normen ging. Aber Menschen auf der ganzen Welt haben auf Westeuropa und die USA geschaut, weil diese zumindest vorgaben, ein gewisses Maß an Achtung vor dem Völkerrecht zu haben. Wenn diese Länder offen gegen die Prinzipien verstoßen und das unterstützen, was respektable Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International und anerkannte Wissenschaftler wie Omar Bartov als Völkermord bezeichnen, dann ist das eine viel größere historische Zäsur als Putins Einmarsch in der Ukraine.
taz: Wie wird der Gazakrieg zum Beispiel von China aus betrachtet? Auch als eine Zäsur?
Mishra: Ja, denn der Krieg in Gaza hat die westliche Glaubwürdigkeit komplett untergraben. China geht als großer geopolitischer Gewinner aus diesem Fiasko hervor.
taz: Sie waren 2008 in Israel und im Westjordanland unterwegs und nennen diese Reise in Ihrem Buch einen persönlichen Wendepunkt. Warum?
Mishra: In vielen Ländern des globalen Südens wächst man mit dem Bewusstsein auf, dass die weißen, westlichen Nationen lange Zeit große Teile der Welt ausgebeutet und unterdrückt haben und sehr reich und mächtig wurden, indem sie dort Land und Reichtum stahlen. Man betrachtet Rassismus, Faschismus und Imperialismus als zusammengehörig. Wenn man mit diesem Blick nach Israel reist und sieht, wie ein Land, das von allen weißen westlichen Industrienationen unterstützt wird, eine indigene Bevölkerung ausbeutet, vertreibt, foltert und tötet, dann fühlt man sich daran erinnert.
taz: Sie unterstellen Israel also Rassismus?
Mishra: Es ist kein Zufall, dass Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel klagt. Es verbindet seinen eigenen Kampf gegen die Apartheid mit dem Kampf der Palästinenser. Das ist ein Wendepunkt in den Beziehungen zwischen dem globalen Süden und dem Norden, und Südafrika geht damit ein großes Risiko ein. Es wird von den Vereinigten Staaten bereits dafür bestraft.
taz: Viele Israelis sind allerdings nicht weiß, sondern stammen aus dem Nahen Osten. Jüdinnen und Juden sind gerade in westlichen Gesellschaften jahrhundertelang diskriminiert worden.
Mishra: Rassismus hat nicht nur mit der Hautfarbe zu tun, sondern mit einer Hierarchie, die immer wieder neu geschaffen wird. „Weißsein“ ist keine feste Kategorie, sie verändert sich immer wieder. Italiener, Griechen oder Iren galten in den USA lange nicht als echte Weiße, das gilt auch für Juden. Heute gehört Israel fraglos zum Westen. Dass ein großer Teil der Israelis heute aus Ländern des Nahen Osten stammt, ist dabei nebensächlich. Wichtiger ist: Das Land steht für ein System der weißen Vorherrschaft. So, wie auch indischstämmige US-Politiker wie Nikki Haley oder Vivek Ramaswamy für eine weiße Vorherrschaft stehen.
taz: Sie sind in Indien geboren, dort identifizieren sich viele mit Israel. Rechtsextreme Hindus bilden den weltweit größten Fanclub Benjamin Netanjahus. Warum?
Mishra: Ethno-Nationalisten, Wahnsinnige und Fanatiker auf der ganzen Welt bewundern Israel: Nicht nur Hindu-Nationalisten in Indien, sondern auch Javier Milei und Jair Bolsonaro in Südamerika oder Rechtsradikale wie Victor Orbán, Matteo Salvini und Marine Le Pen in Europa. Israel zeigt ihnen, wie man sich über das Recht hinwegsetzen und völlig ungestraft davon kommen kann. Das gefällt ihnen. Sie würden es gerne nachahmen.
taz: Aber was verbindet Hindu-Nationalisten mit dem christlichen Nationalismus westlicher Rechtsradikaler? Diese schauen doch auf Hindus wahrscheinlich genau so herab wie auf Muslime.
Mishra: Islamophobie ist ein verbindendes Element. Aber viele Inder, die auch große Fans von Donald Trump sind, haben keine Ahnung, wie er Indien sieht. Er hält es vermutlich für ein „shithole country“, ein Scheißland. Aber seine brutale, rohe Macht übt eine starke, pubertäre Faszination aus.
taz: Zurück zu Israel. Sie schreiben, dass viele jüdische Intellektuelle in der Diaspora ein ambivalentes Verhältnis zum jüdischen Staat hatten. Wie sieht das heute aus?
Mishra: Leute wie Primo Levi, Hannah Arendt und andere, die ich zitiere, sahen, dass Israel immer stärker, aggressiver und expansionistischer wurde, und haben das Land deshalb scharf kritisiert. Es gibt immer noch jede Menge jüdische Schriftsteller und Intellektuelle, die dagegen protestieren. Aber sie bekommen in den Medien nicht so viel Platz und Aufmerksamkeit.
taz: Vom Massaker der Hamas am 7. Oktober fühlten sich viele Juden weltweit persönlich betroffen. Ist das nicht verständlich?
Mishra: Wenn ein Land oder ein Volk auf diese Weise angegriffen wird, dann führt das dazu, dass sich die Reihen schließen. Wenn man sich als Gemeinschaft angegriffen fühlt, dann fühlt man sich in seiner Gruppenidentität bestärkt. So ging es auch vielen Menschen, die nach dem 11. September 2001 als Muslime angefeindet wurden. Aber solche Gefühle lassen nach. Etwa, wenn man nicht nur die schrecklichen Dinge sieht, die am 7. Oktober passiert sind – sondern auch, was danach passiert ist.
taz: Sie schreiben in Ihrem Buch von einem „Missbrauch der Erinnerung an die Shoah“. Was soll das heißen?
Mishra: Es gibt ein bestimmtes Bild von Israel, darin erscheint das Land schwach und belagert, ständig von einem neuen Holocaust bedroht. Israel verbreitet dieses Bild von sich weltweit nach Kräften. Und obwohl es unverhältnismäßig viel Macht, Atomwaffen und die stärkste Armee der Region besitzt, verfängt das bei manchen.
Die PersonGeboren 1969 in Nordindien, Studium der Ökonomie und Literatur in Prayagraj und Neu-Delhi. Mishra schreibt für die New York Review of Books, den New Yorker und den Guardian über Indien, Afghanistan und China. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, 2014 der Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Er lebt abwechselnd in London und in Mashobra, einem Dorf am Rand des Himalaya.
Das Buch„Die Welt nach Gaza“ ist auf Deutsch bei S. Fischer erschienen, 25 Euro.
taz: Aber Israel ist auch ein sehr kleines Land. Seine Sicherheit gilt in Deutschland als „Staatsräson“. Halten Sie das für falsch?
Mishra: Die Deutschen von heute sollten ihre Perspektive erweitern und sich mit ihrer Geschichte von Rassismus und Imperialismus auseinandersetzen. Sie könnten mit der Lektüre von Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ beginnen. Darin schreibt sie, wie der Diskurs der Entmenschlichung seine Wurzeln in der Art und Weise hat, wie im 19. Jahrhundert über die Eingeborenen in den Kolonien gesprochen wurde. Auch die Geschichte der Konzentrationslager fängt nicht in Deutschland an.
taz: Sie halten den Holocaust nicht für ein singuläres Verbrechen?
Mishra: Es gibt Aspekte des Holocausts, die singulär waren, etwa der Bau von Gaskammern. Aber man kann den Nationalsozialismus und den Holocaust nicht aus einer langen Geschichte des Imperialismus und der rassistischen Gräuel herauslösen und trennen.
taz: Viele würden einwenden, dass dadurch der Holocaust relativiert werde.
Mishra: Die Deutschen stehen mit dieser Interpretation des Holocausts ziemlich allein. Ich denke auch nicht, dass ausgerechnet Deutsche anderen Leuten sagen sollten, welche Lehren man aus ihrem Völkermord ziehen sollte. Das ist ziemlich anmaßend.
taz: Sie nennen den Krieg in Gaza ein „Gemetzel industriellen Ausmaßes“. Ziehen Sie damit nicht eine Parallele zum Holocaust?
Mishra: An keiner Stelle in meinem Buch ziehe ich diesen Vergleich! Aber wollen Sie das Ausmaß von Tod und Zerstörung im Gazastreifen leugnen? Das ist ein Ablenkungsmanöver, um sich nicht den Realitäten stellen zu müssen. Wenn Deutsche so sehr auf der Besonderheit des Holocausts beharren, erregt das den Verdacht, dass es ihnen um etwas ganz anderes geht – zum Beispiel darum, Waffen an Israel zu verkaufen und sich zugleich tugendhaft und rein zu fühlen. Daher rührt die Obsession mit diesem Thema.
Die Welt befindet sich in Aufruhr. Seit Donald Trump in seiner zweiten Amtszeit regiert, ist klar: Der Westen – im Kern das Bündnis aus den USA und Europa – zerfällt in rasantem Tempo. Zeitgleich hat China Ansprüche, als zweite globale Supermacht anerkannt zu werden. Die globalen Machtverhältnisse werden neu geordnet, nicht nur in der Ukraine und in Ostasien. Die taz veröffentlicht zu diesem epochalen Umbruch eine Reihe von Interviews mit internationalen Analysten. Zuvor im Interview: Marc Saxer (Bangkok) und Junhua Zhang (Brüssel).
taz: Sie sprechen von Obsession, andere von historischer Verantwortung.
Mishra: Ich bin, wie viele Menschen auf der Welt, entsetzt über das Anschwärzen von Andersdenkenden in Deutschland, die Absagen von Veranstaltungen und die Polizeigewalt gegen propalästinensische Demonstranten. Vielen Deutschen ist wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie sehr ihr Land in der Welt dadurch an Ansehen verloren hat. Die Aussage der deutschen Kulturstaatsministerin, sie habe bei der Berlinale nur für den israelischen Dokumentarfilmer geklatscht, war erbärmlich und hat die ganze Mittelmäßigkeit der deutschen politischen und medialen Klasse offenbart.
taz: Ist Deutschland in dieser Frage wirklich so anders als die USA oder Großbritannien?
Mishra: Die Härte des deutschen Vorgehens insbesondere gegen jüdische Kritiker Israels ist ziemlich außergewöhnlich. Viele dachten, Deutschland fühle sich Jüdinnen und Juden in aller Welt gegenüber historisch verantwortlich. Wie kann es dann sein, dass hier Masha Gessen gecancelt wurde? Warum werden Vorträge von Eyal Weizman abgesagt? Warum wurde der jüdische Fotokünstler Adam Broomberg in Hamburg aus seiner Hochschule rausgeworfen? Das ist alles sehr verstörend.
taz: Welche Rolle spielen Deutschland und Europa in der veränderten Weltordnung?
Mishra: Die Entfremdung von den USA böte Europa die Möglichkeit, seinen Widerstand gegen Russland und den Putinismus mit einer prinzipiellen Ablehnung von Rassismus und Imperialismus überall zu verbinden. Aber wir wissen: Das wird nicht passieren. Friedrich Merz hat Benjamin Netanjahu trotz des Haftbefehls gegen ihn nach Deutschland eingeladen. Das lässt ahnen, in welche Richtung er sich bewegen wird. Und Kaja Kallas, die Außenbeauftragte der EU, sagt, die freie Welt bräuchte einen neuen Anführer. Aber man kann kein Anführer der freien Welt sein, wenn man einen Völkermord unterstützt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen