Gaza-Tagebuch: „Wer kein Geld hat, hat weiter Hunger“
Seit bald einem Monat lässt Israel wieder kommerzielle Güter nach Gaza. Davon profitiert nur, wer die hohen Preise für die Lebensmittel zahlen kann.
V ielleicht kehrt eines Tages wieder Hoffnung in diese Stadt der Schatten zurück. Jeden Tag suche ich nach etwas, das mein Herz am Leben hält. Ich gehe durch die zerstörten Straßen von Gaza-Stadt und stelle mir vor, wie sie einmal waren – wie breit die Straße zum Meer war und wie mir die Brise ins Gesicht wehte. Jetzt scheint der aufgetürmte Schutt die Luft gefangenzuhalten – die Stadt kann nicht mehr atmen. Die Besatzung hat uns das angetan.
Die israelische Besatzungsmacht lügt und behauptet, wir würden nicht verhungern – während sie selbst verhindert, dass Lebensmittel zu uns gelangen. Sie bombardiert uns mit Raketen und behauptet, ihre Armee würde keine Zivilisten töten.
Die Armee belagert Gaza-Stadt von allen Seiten und kontrolliert alles, was in den ganzen Gazastreifen hineingelangt. Seit fünf Monaten lässt die Besatzungsmacht zu wenig Lebensmittel und kaum Medikamente oder Treibstoff für die Generatoren der Krankenhäuser ins Land. Und erst seit weniger als einem Monat erlaubt Israel wieder die Einfuhr von kommerziellen Gütern in den Gazastreifen. Aber reicht das aus, um die Hungersnot zu beenden? Und was bedeutet „kommerziell“ überhaupt?
Natürlich reichen die kommerziellen Lieferungen nicht aus, um die Hungersnot zu beenden. Denn diese Waren werden von Händlern aus dem Gazastreifen eingeführt, die sich mit der israelischen Armee abstimmen und hohe Gebühren zahlen, um die Einfuhr nach Gaza zu gewährleisten.
Was ist also die Wahrheit über den Hunger in Gaza?
Lebensmittel werden auf den Märkten – und in den sozialen Medien – von Händlern und Restaurant-Besitzern im Gazastreifen selbst beworben, als wären sie überall erhältlich. Als hätte die Hungersnot in Gaza ein Ende. Doch ich schwöre bei Gott: Sie zeigen das Leid der Bevölkerung nicht. Was ist also die Wahrheit? Warum spreche ich trotz der derzeit stattfindenden Einfuhr von Handelsgütern immer noch von einer Hungersnot?
Zwei Jahre Krieg haben die meisten Menschen ihrer Arbeit und ihrer Einkommensquelle beraubt, sodass sie sich keine Lebensmittel von den Märkten leisten können. Kostenlose Hilfsgüter sind kaum verfügbar, sie müssen sich alles Benötigte selbst kaufen. Manche Menschen, die bei internationalen Organisationen beschäftigt und durch ihre hohen Gehälter vor den steigenden Kosten geschützt sind, leben einfach weiter. Ebenso Menschen, die Spenden für sich und andere sammeln und sich deshalb ebenfalls die hohen Preise leisten können. Wer kein Geld hat, hat weiter Hunger.
Die Preise für Waren sind aufgrund der vom Militär erhobenen Gebühren und der Gier der Händler außerordentlich hoch – ein Vielfaches ihres normalen Wertes: Ein halbes Kilo Käse, das vor dem Krieg zwei US-Dollar kostete, kostet jetzt 9 US-Dollar. Ein 25-Kilo-Sack Mehl, der früher 7 Dollar kostete, kostet jetzt 100 Dollar – und das ist der Preis von vor zwei Tagen. In den letzten fünf Monaten gab es Zeitpunkte, zu denen er für 500 Dollar verkauft wurde. Das gibt eine Vorstellung davon, wie extrem diese Preissteigerungen – für Güter, die nur die Grundbedürfnisse befriedigen – sind.
Ich arbeite als Lehrer für kreatives Schreiben für Kinder. Und ich schreibe Tagebücher für die taz. Damit kommt etwas Geld für mich und meine Familie zusammen – doch es reicht nicht. Wir leben von einer Mahlzeit am Tag. Oft gehe ich hungrig zur Arbeit, um diese eine Mahlzeit aufzuheben, damit ich am Abend mit halbwegs gefülltem Magen einschlafen kann.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Esam Hani Hajjaj (29) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen.
Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein. Es erscheint meist auf den Auslandsseiten der taz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Robert Habeck tritt ab
„Ich will nicht wie ein Gespenst über die Flure laufen“
Mikrofeminismus
Was tun gegen halbnackte Biker?
Berlins neuste A100-Verlängerung
Vorfahrt für die menschenfeindliche Stadt
Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen
Chefarzt muss seinem Arbeitgeber gehorchen
Buchmarkt
Wer kann sich das Lesen leisten?
Rechtsruck in der Schule
„Zecke? Nehm ich als Kompliment“