Gaza-Tagebuch: Bis zum Einbruch der Nacht auf dem Bürgersteig
Die Offensive auf Gaza-Stadt beginnt, als unsere Autorin noch dort ist. Der Versuch, schnell in den Süden des Gazastreifens zu fliehen, scheitert.

W ir glauben immer, wir hätten noch Zeit – doch so schnell rinnt sie uns davon. Als ich die Nachbarn Mitte September „Yalla, beeilt euch!“ rufen höre, ist mir nicht bewusst, dass mit ihrem Ruf schon wieder ein Zeitabschnitt verstrichen ist. Der Vermieter des Hochhauses in Gaza-Stadt, in dem wir eine Wohnung gemietet hatten, war vom israelischen Militär angerufen worden. Und musste uns auffordern, das Gebäude zu verlassen, bevor es bombardiert wurde. Zehn Minuten. Das war die gesamte Zeit, die uns der israelische Soldat zum Verschwinden gab.
Die Verwirrung war groß, die Minuten verstrichen. Was sollte ich mitnehmen? Nichts zählte mehr außer das Überleben.
Jeder von uns Jüngeren trug ein Kind: Vier Kinder, vier junge Menschen. Meine Mutter und mein Vater an unserer Seite. Ich hielt die kleine Tochter meines Bruders, Rima, in meinen Armen, während ich die zitternde Hand meiner Mutter umklammerte. Bereits zweimal in diesem Krieg hat sie kleine Schlaganfälle erlitten – aufgrund des Schocks. Mein Vater trug in der einen Hand eine Tasche mit offiziellen Dokumenten und in der anderen sein Telefon. Er versuchte verzweifelt, einen Freund oder Verwandten zu erreichen, bei dem wir unterkommen könnten – selbst wenn es nur in einem Zelt wäre. Aber wie so oft gab es keinen Empfang.
Wie in einem Buch von Ghassan Kanafani
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Wir saßen auf der Straße im Schatten eines anderen Wohnturms – der genauso gut das nächste Ziel sein könnte. Die Erschöpfung zwang uns, einen Moment zu verweilen. Alle wussten, dass die Luftangriffe näher rückten. Unsere Augen waren auf den Turm gerichtet. Die Augen der anderen mit Mitleid darin auf uns. Wir hatten versucht, ein Taxi in den Süden zu buchen. Entgegen der Abmachung kam es nicht.
Die Sonne brannte hinunter, versengte die Haut und auch unsere Herzen. Ich dachte an das Buch „Männer in der Sonne“ des palästinensischen Schriftstellers Ghassan Kanafani. Darin erzählt er die Nakba anhand von drei Männern. In meinem Kopf verbanden sich die Fäden der Geschichte miteinander: Der Kreis wiederholt sich. Seit mehr als siebzig Jahren sind wir gefangen in dieser Situation, gefangen durch die Besatzung und uns selbst. Im Buch sind es drei Männer, in der Realität heute ein ganzes Volk.
Die Stunden an der Straße vergingen langsam. Als das Ziel – der Wohnturm – endlich zerstört war, legten sich Rauch, Staub und Schreie. Wir blieben bis zum Einbruch der Nacht auf dem Bürgersteig zurück. Dann machten wir uns auf den Weg zum Lager meiner Tante. Staub bedeckte unsere Gesichter und Kleidung, Müdigkeit umhüllte uns. Als wir ankamen, brachen wir zusammen.
Meine Tante fragte: „Was ist passiert?“ Alle Augen richteten sich auf uns, sie warteten auf eine Antwort. Niemand sprach. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Schließlich flüsterte ich: „Nichts.“ In meinem Kopf schrie ich, erlebte alles noch einmal. Doch außer „Nichts“ kam nichts aus meinem Mund.
Die Morgendämmerung scheint orange in das Zelt
Wir ruhten uns aus, klopften den Staub ab und saßen zusammen, während mein Vater dann doch alles bis ins kleinste Detail erzählte. Wir lagen nebeneinander im Zelt, eng aneinander gedrängt wie Sardinen. Ich starrte an die Zeltdecke. Mit dem Gesicht im Schmutz, nur mit einem zerfetzten Tuch bedeckt, spürte ich die Erde – ihre Kälte, ihren Geruch, ihre Körnigkeit an meinen Handflächen. Ich versuchte erst, sie abzuschütteln, aber sie klebte sich hartnäckig an mich. Also gab ich auf. Der Schlaf kam leicht.
Trotz der Kälte der Nacht schlief ich bis zum Morgen. Die Morgendämmerung schlich sich in unser Zelt, ihr Licht war orange und sanft. Das Zwitschern der Spatzen in der Luft streifte mein Ohr. Ich sah mich um – alle anderen waren schon wach. Meine Tante neckte mich: „Na, Sawsan, du hast wohl gut geschlafen letzte Nacht!“ Ich streckte mich, gähnte und antwortete: „Das Lager ist tatsächlich komfortabel.“ Alle lachten. Meine Tante schüttelte den Kopf: „Du musst geträumt haben. Der Beschuss hörte erst im Morgengrauen auf“.
Ich lachte auch, verwirrt über mich selbst. Und glaubte wieder daran, dass es noch mehr Zeit geben möge. Dass mehr Leben auf mich wartete. Mehr Morgen, der uns nach langen Nächten der Angst beruhigen würde. Und trotz all dem, was auch ein neuer Morgen wieder bringen könnte. Inzwischen sind wir im Süden angekommen. Wie viel Zeit bleibt uns diesmal?
Sawsan Al-Ajouri hat an der Islamischen Universität Gaza Englische Literatur studiert, ihr Lieblingsautor ist T.S. Eliot. Sie schreibt seit acht Jahren Gedichte; noch ist ihr Erstlingswerk unveröffentlicht.
Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.
Aus dem Englischen Lisa Schneider
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