■ Gastkommentar: Aussterbende Arten
Westberlin ist lange nicht mehr Frontstadt, aber die Frontstadtsprache bleibt. In erster Reihe: Der Samstagskommentator der B.Z., der konservative Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler. Vergangenen Sommer bereits verriet er uns eine Andeutung seines Reinheitswahns, als er forderte, daß die Flugzeuge, die die Kondensstreifen in dem blauen Berliner Himmel verursachen, umgeleitet werden sollten wie zu alten Frontstadttagen.
Diesen Samstag in der B.Z. konstatierte er „Berlins völlige Verwahrlosung“ durch „Graffite und Verunreinigungen“ und „Schmierereien“, die zur „Verlotterung der Stadt“ führten. Die „Besucherzahler“ (hübscher, treffender Druckfehler) der Hotels seien rückläufig. „95 Prozent aller Berliner“ litten „seit Jahren“ darunter. Frage: Wer sind die anderen 5 Prozent?
Die Schuldigen sollen die jugendlichen Graffitimaler sein! Siedler fordert, daß sie die Kosten der Entfernung ihrer Malereien selbst bezahlen. Für ihn besteht der Dreck der Stadt nicht aus Tonnen von Hundeexkrementen oder dem Verpackungsmüll der Konsumbefriedigten, der sich an S-Bahn-Böschungen und in Grünanlagen stapelt.
So ein Märchen kommt an. Denn auch in Berlin ist es nun möglich, Legenden zu erzählen, wie wir es sonst nur aus New York kennen. Die Legendenbildung dreht sich immer um die Beantwortung der Frage, warum dies und das in der Stadt schieflaufe. Siedler sagt uns, daß alles in Ordnung sei, daß nichts mehr schieflaufe, daß Berlin wieder von allen geliebt werde, wenn es keine Graffiti an den Häuserwänden mehr gebe, wenn diese 5 Prozent der Berliner Bevölkerung endlich aufhören würden, die anderen 95 Prozent zu tyrannisieren. In alter Frontstadtmanier schreibt er von den „westdeutschen und ausländischen Besuchern“ Berlins, die die „Verwahrlosung“ monierten – womit er zwischen den Zeilen vor sich hin denunziert, daß ostdeutsche Besucher sich an der „Verlotterung“ nicht störten. Weiter so! Bodo Morshäuser
Schriftsteller, veröffentlichte u.a. „Die Berliner Simulation“, „Hauptsache Deutsch“, „Der weiße Wannsee“ und „Warten auf den Führer“ (alle im Suhrkamp-Verlag erschienen).
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