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Gastbeitrag über verdrängte NS-OpferZeit, das Unrecht zu benennen

Als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ bezeichnete Menschen erhielten bisher keine Anerkennung als NS-Opfer. Das muss sich ändern.

Ein Kunstwerk auf dem Gelände des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers Uckermark Foto: imago-images/Cathrin Bach

Mit 18 Jahren, kam Anita Köcke 1943 ins KZ Uckermark. „Ich habe dem Jugendamt gehört“, sagte sie über sich. Mit vierzehn musste sie beim Bauern morgens 70 Kühe melken. Sie lief fort, wurde aufgegriffen, bekam neue Stellen zugewiesen, lief wieder fort. Schließlich galt sie als „arbeitsscheu“.

Tausende junge Frauen und Mädchen ab 16 Jahren oder jünger waren im sogenannten „Jugendschutzlager Uckermark“, nah dem Frauen-KZ Ravensbrück, interniert. Wie Hildegard Lazik, die russische Kriegsgefangene mit Lebensmitteln unterstützt hatte und im KZ zwangssterilisiert wurde. Oder wie Amelie S., die wegen kleiner Diebstähle aufgefallen war.

Viele waren vorher in der Fürsorge, weil ihre Mütter ledig waren und Kinder hatten von verschiedenen Männern. Um Jugendschutz ging es hier nicht. Jedenfalls nicht um den der Internierten. Sie galten als „gemeinschaftsfremd“, als „asozial“ oder „Berufsverbrecherinnen“. Vor ihnen sollte die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ geschützt werden – ein Leben lang.

Auch über 70 Jahre nach Kriegsende weist die Aufarbeitung des Nationalsozialismus erhebliche Lücken auf. Das betrifft den Holocaust, der in seiner Singularität zu Recht im Zentrum deutscher Erinnerungskultur steht. Das betrifft aber auch die bisher wenig beachteten Opfergruppen der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“.

„Geborenes Verbrechertum“

Viele Betroffene haben das Stigma verinnerlicht und schwiegen aus Scham über das Erlittene. In der von Zeitzeugen überlieferten Geschichte der Konzentrationslager fehlt ihre Perspektive bis heute. Das hat zu Lücken geführt im kollektiven Gedächtnis und in den Familiengeschichten.

Die damals als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ Bezeichneten hätten unterschiedlicher kaum sein können. Manche waren vielleicht, wie Ringelnatz über eine seiner Figuren schrieb, etwas schräg ins Leben gebaut, ungelenk oder widerständig und anders. Viele waren arm, in die Armut geboren. Schon ihre Eltern hatten nicht „funktioniert“.

Stand im Gesundheitspass des Kindes, dass die Eltern arbeitslos, vorbestraft oder alkoholkrank waren, reichte das, um dem Kind „geborenes Verbrechertum“ oder erbliche „Asozialität“ zu attestieren. Verfolgt wurden aber auch Hamburger Swing Kids. Mit ihrer amerikanischen Kleidung, ihren langen Haaren und der Begrüßungsformel „Swing Heil!“ waren sie für Heinrich Himmler, Reichsführers SS, „Arbeitsscheue“ und ein „Übel“, das „radikal ausgerottet“ werden musste.

Verfolgte Lebensentwürfe

Es ging nicht um Straftaten, sondern um Lebensentwürfe. Die Internierung im KZ traf ab Mitte der 1930er Jahre sozial unangepasst lebende Menschen. Mit dem Instrument der „rassischen Generalprävention“ wurden sie als „gemeinschaftsfremd“ aus dem Kreis der Freien ausgeschlossen. Denn zu schützen war nicht das Kind oder der Jugendliche, nicht der Mensch mit seinen Sehnsüchten und seinen Krisen, sondern allein die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“.

Es war ein offen formuliertes Programm, wie Wolfgang Ayass schreibt, und ging einher mit Begriffen wie „Auslese“, „Ballastexistenzen“ und „Ausmerze“. Wer als „gemeinschaftsfremd“ galt, für den gab es keine Rechte. Betroffen waren Obdachlose, Frauen, die als „sexuell verwahrlost“ galten, wegen des Kontakts zu Fremdarbeitern, einer Abtreibung, vermeintlicher oder tatsächlicher Prostitution. Oder Kleinkriminelle wie Ernst Nonnenmacher, der wegen Wäsche- und Holzdiebstahls ein Vorstrafenregister hatte und zur Vernichtung durch Arbeit im Steinbruch im KZ Flossenbürg interniert wurde.

Waren die Eltern arbeitslos, vorbestraft oder alkoholkrank, reichte das, um dem Kind geborenes Verbrechertum oder erbliche „Asozialität“ zu attestieren

Das Schicksal seines Onkels hat Frank Nonnenmacher in seinem eindrücklichen Portrait zweier Brüder („DU hattest es besser als ICH“, 2014) festhalten.

Im Rahmen der Verfolgungspraxis wurden die Begriffe „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ zunehmend unterschiedslos verwandt. Auch Homosexuelle, Juden, Sinti und Roma oder politische Oppositionelle wurden von Justiz und Verwaltung als „asozial“ bezeichnet und verfolgt. Der Begriff war dabei gezielt ungenau und diente auch dazu, derer habhaft zu werden, für die die Zuschreibung „Berufsverbrecher“ nicht passte.

Armut war selbst verschuldet, so die Logik der Nazis. Sie widersprach dem Bild des neuen, funktionstüchtigen Menschen und hatte aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden. Die Ermächtigungsgesetze von 1933 schufen den rechtlichen Rahmen für die reichsweite Erfassung und Verfolgung der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“. Die Ausgestaltung der Maßnahmen gegen sie war dann Sache der Länder.

Erhard Grundl MdB

ist Sprecher für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Unter seiner Federführung entstand der Antrag:

. Nach erster Lesung und Plenardebatte am 4. April wird er nun im zuständigen Ausschuss für Kultur und Medien diskutiert. Danach gelangt er in zweiter/dritter Lesung und zur Abstimmung in den Deutschen Bundestag. Grundl engagiert sich hierbei für ein interfraktionelles Vorgehen.

Eine KZ-Haft anordnen konnten Polizeidirektionen, Landratsämter und Regierungspräsidenten. Sie erfolgten aber auch auf Vorschlag von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wohlfahrtspflege, von Bürgermeistern, Gesundheits- und Arbeitsämtern, in Einzelfällen von klinischen Anstalten, nicht selten aufgrund von Denunziationen durch Mitbürger oder auch Angehörige.

So vermerkt ein Pfarrer, wie Julia Hörath schreibt, in seiner Beurteilung des Bäckerlehrlings Jasper O., das „anscheinend verdorbene Blut durch das leichtsinnige Leben des Vaters“. Dass er damit Schicksal spielte, muss er gewusst haben. Der so stigmatisierte Junge wurde von einer Fürsorgeeinrichtung in die nächste geschoben. In seiner Akte wird der „Hang zum Stehlen“, zu „Leichtsinn“ oder „Liederlichkeit“ vermerkt. Schließlich wird so aus einem verstolperten Kind ein delinquenter Jugendlicher und ein straffälliger Erwachsener. Und man sah sich bestätigt.

Freiheitsentzug ohne richterliche Anordnung

Zwischen 1933 und 45 wurden insgesamt mehrere zehntausend Menschen von der Kriminalpolizei, der Gestapo, Wohlfahrtsbehörden oder Gerichten zu „Asozialen“ oder „Berufsverbrechern“ erklärt und in Konzentrationslagern interniert. Etwa 16.000 Menschen wurden nach einer verbüßten Haftstrafe aus „Sicherungsverwahrung“ direkt in Konzentrationslager überwiesen.

Zum Kriegsende wurden die „Sicherungsverwahrten“ vermehrt zur „Vernichtung durch Arbeit“ in die KZs gebracht. „Vorbeuge-“ oder „Schutzhaft“ wurden verhängt, wenn die Betroffenen mindestens einmal vorbestraft waren. Eine genaue Zahl kennen wir bis heute nicht.

Dabei unterschied sich die „Schutzhaft“ der Nationalsozialisten von allen vorangegangenen Bestimmungen durch ihren fundamentalen Unrechts­charakter. Sie widersprach den Grundprinzipien eines rechtmäßigen Freiheitsentzugs, erstmals kodifiziert durch die Habeas-Corpus-Akte 1679. Denn dieser Freiheitsentzug erfolgte ohne richterliche Anordnung, ohne dass eine Straftat vorlag und ohne dass den Betroffenen Rechtsmittel zur Verfügung standen. Zudem war der Freiheitsentzug generell zeitlich unbefristet. Damit war klar, dass eine Resozialisierung nicht angestrebt wurde. Den Tod der Betroffenen nahmen die einweisenden Behörden mindestens in Kauf.

Verbrecher in Uniform

Es gab auch ehemalige Kriminelle mit langen und schweren Vorstrafen unter den KZ-Häftlingen mit dem schwarzen oder grünen Winkel. Solche, die heute wohl als „Intensivtäter“ bezeichnet würden. Doch auch für sie gilt nach unserem heutigen Rechtsverständnis, dass ihnen mit der Einweisung in ein Konzentrationslager schweres Unrecht zugefügt wurde. Viel größere Verbrecher standen ihnen gegenüber – in SS-Uniformen.

In der Nachkriegsgesellschaft stießen sie wieder auf Vorurteile. Auch in neuer Literatur werden sogenannte Berufsverbrecher häufig auf die Rolle als Funktionshäftlinge oder Kapos reduziert. Allerdings wurden in dieser Funktion Schwerverbrecher nicht häufiger eingesetzt als andere, wie Dagmar Lieske in einer Forschungsarbeit für Sachsenhausen feststellt. Sicherlich gab es diejenigen, die ihre Macht auf Zeit und Abruf missbraucht haben. Aber auch Kapos waren Häftlinge und im nächsten Moment auch Todesopfer. Das System KZ war in sich ein Unrechtssystem. Wer dort als Häftling zum Täter wurde, war doch immer zuallererst ein Opfer.

Kann man Kriminelle als Opfer anerkennen? Ich denke, man kann und man muss. Es ist an der Zeit, das Unrecht zu benennen. Es ist an der Zeit, die sozialrassistische und kriminalpräventive Verfolgung von Andersdenkenden, Minderheiten oder benachteiligten Menschen mit einer eindeutigen Geste zu verurteilen. Denn niemand war „zu Recht“ in einem KZ. Schon für die Sondierungsverhandlungen 2017 hatten wir Grüne die Anerkennung der Opfergruppen mit den grünen und schwarzen Winkeln als Ziel formuliert.

Kann man Kriminelle als Opfer anerkennen? Ich denke, man kann und man muss. Es ist an der Zeit, das Unrecht zu benennen

Doch die große Koalition ist bis heute nicht bereit, sie als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen. Dass wir heute wieder vermehrt gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegenüber Langzeitarbeitslosen, Flüchtlingen, Obdachlosen und Menschen mit Behinderung von rechts außen beobachten, zeigt, wie aktuell das Thema ist – auch wenn sich ein Analogieschluss mit dem NS verbietet.

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