Freiwilliger Verzicht auf Dating: Ganz praktisch ohne Sex
Im freiwilligen Zölibat wenden Menschen sich bewusst davon ab, Sex zu haben oder Sex zu suchen. Für manche setzt das ganz neue Energien frei.

Schneider steckt ihre Sonnenbrille ins Haar und sagt: „Immer dieses Auf und Ab mit den Typen und dann nur ein halber Orgasmus, nee, keinen Bock mehr darauf.“ Also verzichtet sie auf Sex, entscheidet sich dagegen, sich von Beziehung zu Beziehung zu hangeln, „wie Äffchen von einer Liane zur nächsten“, wie sie sagt. Und das ausgerechnet in Berlin, wo Menschen gern mal zwei oder drei „Lianen“ gleichzeitig umklammern, einfach weil es möglich ist.
Nun also das Zölibat, für das sich immer mehr Berlinerinnen entscheiden. Muss die Singlehauptstadt um ihren Ruf als sexpositiver Hotspot fürchten? In Deutschland wohnen die meisten Singles in Ballungsräumen. In Berlin sollen es fast 30 Prozent der Erwachsenen sein. Laut Statistischem Landesamt gehen Geburten und Eheschließungen von Jahr zu Jahr zurück. Single oder unverheiratet heißt aber nicht automatisch sexlos. Im Gegenteil, in Berlin werden die meisten Dating-Apps heruntergeladen. Einige gibt es sogar nur hier, viele bieten direkt Funktionen an, bei denen man klar weiß: Dieses Treffen ist für Körperlichkeiten gedacht, nicht fürs Standesamt in Steglitz.
Warum also zölibatär leben? Katie Schneider sagt, sie möchte auf ihre Energie aufpassen, Sex mit „irgendwem“ sei auch nicht schön und sie kenne viele Paare, bei denen auch nichts mehr laufe.
Auch Paare leben sexlos
„Für die Selbsterkundung kann ein Verzicht auf Sexualität heilsam sein“, sagt die Sexualtherapeutin Sonja Werner. Dadurch könne „emotional und energetisch Ruhe einkehren“. Kreativität und Selbstkontrolle steigen und man lerne sich selbst anders kennen. Manche Menschen verzichten aber auch zwangsweise auf sexuelle Begegnungen aufgrund von negativen Erfahrungen. In ihrer Praxis in Neukölln bietet Werner Tantra und Körperarbeit an.
„Auch Paare kommen zu mir, die zum Teil seit Jahren sexlos leben“, sagt sie. Sei es aufgrund traumatischer Erfahrung, der Beziehungsdynamik oder weil es schlicht nicht mehr gewollt sei. „Ich schaffe einen Raum, wo über alles gesprochen werden kann. Mit sensibilisierenden und sanften Techniken können sich die Menschen wieder mit sich und dann mit anderen in Kontakt bringen.“
Es gibt viele gute Gründe, Sexualität auszuklammern und nicht zu wollen. Es gibt auch viele Ebenen, anders intim und verbunden mit sich und seinen Beziehungspersonen zu sein. In manchen Kulturen wird das Zölibat auch als „Superkraft“ bezeichnet, weil es angeblich die Fähigkeit verleiht, sich auf andere Dinge zu konzentrieren, Geduld zu üben.
Schneider will nach Jahren des Datens, der Situationships, der On-Offs einfach keinen Stress mehr. Asexuell sei sie jedoch nicht. „Wenn immer wieder im sexuellen Kontext unsere Gefühle und Stimmungen nicht respektiert werden, ziehen sich viele zurück“, sagt die Sexologin Julia Henchen. Denn das Respektieren von Grenzen sei eine Voraussetzung für Lust. „Wenn Männer diese Grenzen wiederholt nicht einhalten, setzen Frauen die Grenzen selbst, oft dann kategorisch“, so die Paar- und Sexualtherapeutin.
Kuchen statt KitKat
Frauen sind mit vielen Anforderungen konfrontiert, um Männern zu gefallen: Körperlich sollen sie sein, aber bloß nicht zu laut, zu kompliziert, zu emotional. „Dagegen entscheiden sich Frauen immer wieder, zum Beispiel eben durch Sexlosigkeit. In der Partnerschaft oder besonders auf dem oft sehr verletzenden Dating-‚Markt‘“, sagt Julia Henchen.
Doch nicht nur Frauen leben in Berlin ohne Sex. Schneider hat einen Nachbarn, er sei gutaussehend, immer zu Hause und lustig, sagt sie. Sie rufe ihn manchmal an, wenn es sonntags zu ruhig ist, dann gehen sie spazieren. Er hört gut zu, bringt sie zum Lachen – auch er lebt ohne Sex. Tom Hansen* wird bald 40, sitzt in seinem Lieblingscafé an seinem Laptop. Auf die Frage, ob er auch im Zölibat lebe, sagt er: „Äh nein, also nicht bewusst, es hat sich einfach so ergeben. Vielleicht ist es einfach so kompliziert mit Frauen.“
Ist Hansen also ein Incel, also einer jener unfreiwillig im Zölibat Lebenden – auf Englisch „involuntary celibates“ – Frauenhasser? „Nur weil ich einen Computer habe und oft abends arbeite, heißt das noch lange nicht, dass ich Frauen im Netz hasse und denke, Alligatoren steuern unser Land“, sagt er genervt. „Warum muss ich mich rechtfertigen, wenn mir manchmal Kuchen lieber ist als das Kitkat?“

Aus welchen Gründen haben Menschen Sex?
Eine große Auswahl an Kuchen gibt es bei den Treffen der „Charming Theys“, einem Stammtisch für Asexuelle, die sich regelmäßig in einem ruhigen Café in Prenzlauer Berg treffen. Dieses entspannte Zusammenkommen organisiert Momo. „Asexualität zu leben, bedeutet für mich, zu mir zu stehen und schon sehr früh im Dating Erwartungshaltungen anzusprechen“, sagt Momo. „Das ist nicht immer leicht. Denn es ja nicht die Norm, Sex keinen hohen Stellenwert in romantischen Beziehungen zu schenken“, insbesondere nicht in einer Stadt wie Berlin.
Bei ihren Treffen fragt Momo ab, wo auf einem Spektrum die Teilnehmer*innen sich im Moment einordnen würden, bei dem Wunsch nach körperlicher Nähe oder regelmäßigem Sex. Momo versucht so, deutlich zu machen, dass Menschen nicht für immer und in jeder Lebenslage auf bestimmte Handlungen festgelegt sind, sondern sich beim Wunsch nach Nähe immer wieder in sich einfühlen und mit anderen in Kontakt kommen können.
Also einfach etwas mehr Achtsamkeit und Ruhe ins Thema bringen? „Viele Menschen stellen sich in Sachen Sex zwei besorgte Fragen: Ist das normal? Und: Ist das großartig genug?“, sagt die Berliner Kulturwissenschaftlerin und Autorin Beate Absalon. Ihre Antworten würden sie dann in äußeren Normen suchen. Mit Lust auf Sex habe das wenig zu tun. „Von welchem Sex wird sich eigentlich zölibatär abgewendet? Ist es nicht der sinnentleerte Sex, der nichts mit uns zu tun hat?“
Absalon schlägt vor, die vielen verschiedenen Gründe, warum man sich überhaupt Sex wünscht, zu hinterfragen. Wann ist es zum Beispiel Langweile, der Wunsch nach Nähe, der nach Bestätigung und ist dann wirklich immer Sex die Lösung? Absalon macht Workshops zu diesen Fragen und veranstaltet im Kollektiv „Luhmen d’Arc“ regelmäßig große Orgien. Die Unlust erforscht sie allerdings ebenso gern und hat das Buch „Not give a fuck“ zum Thema geschrieben.
Verletztendes Dating
Schon in den Anfängen der Frauenbewegung habe das feministische Zölibat es ermöglicht, Normen zu hinterfragen und die durch Sexlosigkeit frei gewordene Zeit für leidenschaftliche Projekte zu nutzen: Kunst, Politik, Gemeinschaftsbildung. „Heute können wir davon lernen und uns grundlegende Fragen stellen: Warum habe ich Sex, welche Bedürfnisse möchte ich damit stillen und eignen sich nicht sexuelle Tätigkeiten dafür vielleicht viel besser?“
Oft geht es beim neuen Zölibat jedoch weniger um den Sex an sich, als um das unbefriedigende und verletzende Dating. Auch Katie Schneider gibt zu, sich dabei schon mal nicht so gut verhalten zu haben. „Klar habe ich schon mal eine falsche Nummer rausgegeben, obwohl wir uns gut verstanden hatten, oder auch einfach nach einem Date die Nummer geblockt, weil ich doch nicht so viel Interesse hatte, aber nicht wusste, wie ich es sagen soll.“
Ihr Nachbar Tom Hansen sagt: „Ich habe mich bei Ex-Freundinnen auch nicht wieder gemeldet und oft bei Chats aufgehört weiterzuschreiben, ohne Verabschiedung.“ Doch woran liegt dieser Umgang mit neuen Leuten? Erst Tindern auf dem Klo und die Möglichkeit maximaler körperlicher Nähe, dann komplettes Wegtauchen?
Die Autorin Katja Lewina schreibt über Sex und Liebe, eines ihrer Bücher heißt „Ex“, ein anderes „Lass uns Freunde bleiben“. Bei beiden geht es um den kritischen Umgang mit der eigenen Beziehungsgeschichte, dem Umgang mit sich und mit anderen. Sie schlägt vor, zumindest zu versuchen, den „full cycle“ zu gehen, selbst wenn man sich nicht wiedersehen will. Höflicher Anfang und Abschied, ein paar Worte, etwas Lob, um dann auch gehen zu können, ohne wieder ein verletztes Herz in die Berliner Nacht zu schicken.
Katie Schneider und Tom Hansen hätte das vielleicht geholfen. Andererseits hat Schneider bald ihre Promotion fertig und genießt es, sich nicht um jemanden kümmern zu müssen. An manch einem milden Sommerabend sieht man die beiden in einem der Berliner Parks spazieren gehen, sie trägt eine große Sonnenbrille, er schaut sie von der Seite an – vielleicht sogar ein wenig verliebt. Aber vielleicht hört er ihr auch nur aufmerksam zu. Auch eine Art Superkraft.
*Namen geändert
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