GEHT’S NOCH?: Nur Stimmen? Literatur!
Kaum ist klar, dass Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis bekommt, mäkeln Kritiker, dass sie eigentlich Journalismus schaffe
Die Nachricht, dass die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch die höchste literarische Auszeichnung dieses Jahres zuerkannt bekommt, war noch ziemlich frisch – da ordnete die Zeit-Kritikerin Iris Radisch diese Entscheidung als im Grunde verfehlt ein. Na ja, sagte sie im Gespräch auf 3sat in der „Kulturzeit“, ohne auch nur besondere Glückwünsche auszusprechen, eigentlich sei es keine Literatur, die diese Autorin gefertigt habe. Sondern Journalismus! Die Stimmen, die Alexijewitsch zu Protokollen zusammengestellt habe, erreichten recht eigentlich, musste man sie verstehen, nicht die Höhen literarischen Schaffens.
Klar, es wäre keine Redakteurin der Zeit, würde sie nicht auch zugleich gelobt haben, was Journalismus zustande bringen kann. Aber die Frau aus Minsk habe in ihren Büchern Sprache literarisiert.
Im „Literarischen Quartett“ hätte Marcel Reich-Ranicki womöglich darauf gesagt: „Haben Sie eine Meise, Frau Kollegin, wie können Sie diesen Schatz an Gesammeltem des roh Gesagten nicht mögen? Stimmen, die sonst kaum Platz in der Literatur haben …“ Die Übersehenen nämlich, jene, deren Äußerungen subtil zu erhören und in einen Textkorpus zu bringen sind. Alexijewitsch kann das preiswürdig gut. Ihre Bücher („Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ oder „Die letzten Zeugen“) belegen das auf auch oft erschütternde Weise.
Fragt sich nur: Wo liegt das Problem? Soll Stockholm nicht mehr auszeichnen, was literaturwissenschaftlichen Seminaren nicht geheuer ist? Schon der 2012 nobelpreisgewürdigte Mo Yan fand nicht den einhelligen Applaus der Literaturkritik (gerechterweise muss man sagen: den von Frau Radisch sehr wohl). Denn auch er wusste die „Stimmen“ der gewöhnlich Stummen zu verarbeiten, er schreibt Literatur, die so kunstvoll – dennoch schmutzig, roh – die Atmosphären außerhalb der schönen Welten in den trockenen Tüchern zur Überlieferung bringen.
Iris Radisch mag dieses Literarische bei Frau Alexijewitsch nicht gefallen, Geschmäcker sind halt verschieden. Doch warum freut sie sich nur auf diese skeptisierend, leicht mokant-schmunzelnde Art mit?
Jan Feddersen
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