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Futurzwei Harald Welzer redet ganz analog über die offene Gesellschaft und darüber, warum Deutschland so verspannt istGehört Pegida ignoriert?

Die Willkommenskultur funktioniert: Geschichten des Gelingens erzählen darüber, welches Land wir sein wollen Foto: Karsten Thielker

Interview Mareike Barmeyer und Jan Feddersen

taz: Herr Welzer, unsere These lautet: Wir leben in einer guten Gesellschaft, die wir uns selber errungen haben. Stimmen Sie zu?

Harald Welzer: Ja. Die Willkommenskultur funktioniert. Das, was wir im Spätsommer gesehen haben und was bis heute anhält, ist eine Geschichte des Gelingens: dass es in diesem Land vermocht wurde, eine Bürgerschaft zu etablieren, die für die offene Gesellschaft nicht nur verbal eintritt, sondern sie auch lebt. Auch die ganzen angeblichen Ängste muss man in Relation setzen. Wovor haben die Leute denn Angst? Also, wenn ein Atomschlag stattgefunden hätte oder die Pest zurückgekehrt wäre, okay. Aber wie diese – aus Verwaltungsperspektive – große Zahl von Menschen doch in den meist funktionierenden Kommunen gehändelt wird, ist faszinierend. Alles eher Nichtkrise als Krise.

Weshalb verneinen Sie die Idee der Krise: Tragen moderne Gesellschaften Krise als Antriebsstoff nicht immer in sich?

Die Flüchtlingszuwanderung ist keine Krise, sondern Teil eines fundamentalen Gestaltwandels: von Kapitalismus zu etwas anderem. Eine Krise ist sie deswegen nicht, weil sie nicht verschwinden wird. Es wird ja absehbar keine Fluchtursache entfallen, im Gegenteil. Was wir gerade an vielen Phänomenen sehen, ist, dass 30 Jahre Neoliberalismus eine radikal zerstörerische Bilanz hinterlassen.

Zum Beispiel?

Nun: Zweite-Generation-Terrorismus, fehlende Bildungsprogramme, prekäre Beschäftigung, zurückgefahrener so­zia­ler Wohnungsbau. Man kann das auch umdrehen und sagen: Alles, was an unseren Gesellschaften problematisch ist, ist auch problematisch ohne die Flüchtlingsfrage. Es gibt also eine Chance der Repolitisierung dessen, wie unsere Gesellschaft eigentlich sein soll. Eine Krise zeichnet sich dadurch aus, dass man davon ausgehen kann, sie irgendwann zu überwinden. Das wird aber nicht überwunden. Was ganz anderes ist das Phantasmagorische, das im Moment die Diskussion kennzeichnet.

Foto: Rat für Nachhaltige Entwicklung
Harald Welzer

Jahrgang 1958, ist Professor für Transformationsdesign an der Uni Flensburg, Direktor der Stiftung Futurzwei sowie Mitinitiator der bundesweiten Debatten­aktion „Die offene Gesellschaft“.

www.die-offene-gesellschaft.de

Wie meinen Sie das?

Wenn man die Friedrichstraße in Berlin runtergeht, drängt sich das Flüchtlingsthema ja nicht wirklich auf. Kann es auch nicht, bei etwas über einem Prozent Bevölkerungszuwachs. Das ist ja das Absurde. An den Hotspots wie Flensburg oder in Passau gibt es Sichtbarkeiten, auch dort, wo Heime sind. Aber dieses Phantasma, das ist was völlig anderes. Das hat viel damit zu tun, wie das Thema parteipolitisch instrumentalisiert wurde. Und mit einer überraschend unglücklichen Rolle vieler Medien.

Wie lässt sich das ändern?

Wir haben mit der Debattenaktion „Welches Land wollen wir sein?“ versucht, aus den Medien rauszugehen: Wir diskutieren analog, basisdemokratisch, total klassisch. Heute ist die Zeit dafür, dass Leute miteinander reden.

Und funktioniert das?

Es haben jetzt 10.000 Leute daran teilgenommen. Die Diskussionen dort sind überhaupt nicht hysterisch. Es gibt eine Abkoppelung zwischen dem, was die Leute beschäftigt, und dem, was in den Medien zu lesen ist – immer dazugesagt, dass wir ein spezielles Publikum haben, sehr wenig Pegidisten. Vor allem ist mir im Moment die Medienlandschaft ein komplettes Rätsel. Ich lese im Zug immer die Bild und denke: Gott sei Dank gibt es die noch. Die machen bei der Negativpropaganda nicht mit. Im Gegensatz zu anderen. Die bürgerliche FAZ etwa dreht total durch.

Die Linke erwartet ja traditionell, dass man politische Kämpfe verliert. Woher kommen nun die Leute, die sagen: „Wir werden vor den Rechten nicht klein beigeben“?

Ich nenne es deep memory: Es gibt in diesem Land kaum eine Familie ohne Flüchtlingserfahrung. Das erzeugt eine Identifikation, besonders bei den älteren Generationen. Es ist auch ein intergenerationelles Thema. Und es ist merkwürdigerweise gelungen, diese Gesellschaft tatsächlich zu einer offenen demokratischen Gesellschaft zu machen. Natürlich auch durch entsprechenden Wohlstand. Aber immerhin. Da hat was funktioniert als Gesellschaft.

Sollte man der Pegidaströmung nicht viel weniger Verständnis entgegenbringen?

Zerstörerisch „Was wir gerade an vielen Phänomenen sehen, ist, dass 30 Jahre Neoliberalismus eine radikal zerstörerische Bilanz hinterlassen“HARALD WELZER

Pegida an sich war ein lokales Phänomen. Diese Leute hätte man einfach von Anfang an igno­rie­ren müssen. Die AfD, die im Kern auf derselben Menschenfeindlichkeit reitet, ist leider etwas, was man nicht mehr so einfach ignorieren kann. Aber heißt das im Umkehrschluss, dass man jeden gedanklichen oder mündlich vorgetragenen Furz von Menschen, die man vor zwei Wochen noch nicht kannte, zum Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit machen muss? Das ist der Klassiker der politischen Psychologie, dass man auch aus der kritischen Position heraus die Leute hochschreibt.

Worauf kommt ’s wirklich an?

Darauf, dass diejenigen, deren Großeltern von woanders her­gekommen sind, auf ihre nachhaltigen Ausgrenzungserfahrungen hinweisen. Deutschland ist ja das einzige Land, wo es den Begriff „mit Migrationshintergrund“ gibt. Warum muss man denn so ein Begriffsmonstrum auf höchstem Abstraktionsgrad erfinden? Oder „aus bildungsfernen Schichten“. Weil man nicht darüber sprechen mag, dass es Armut und Ungleichheit gibt, erfindet man solche Verspannungsbegriffe. „Mit ­Migrationshintergrund“ bedeutet: „Entschuldigung, ich habe Schwierigkeiten, zu akzeptieren, dass jemand von woanders herkommt, weiß aber, dass ich das so nicht sagen darf.“ Also kommt man mit solchen so­zial­pädagogischen Begriffen, die die Wirklichkeit unsichtbar machen.

Auf dem taz.lab reden wir weiter über eine offene Gesellschaft

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