Fußball und Courage: Die rückgratlose Nationalelf
Die Kritik gegen die Fußballer geht leicht über die Lippen. Vor allem, wenn man selbst nicht vor der Wahl steht, ein Risiko einzugehen oder nicht.
S eit einem Vierteljahr habe ich eine Mitarbeiterin, die jetzt so weit angelernt ist, dass ich sie heute an dieser Stelle vorstellen kann: Frau Dr. Bohne, Deutscher Jagdterrier, ein bisschen Rauhaardackel, also Jagd-instinkt gepaart mit Sturheit, genau das Richtige für mich. Frau Dr. Bohne hat in Internationaler Politik promoviert, sie wird mich künftig beim Verfassen dieser Kolumne mit ihren brillanten Gedanken und scharfen Analysen unterstützen.
Frau Dr. Bohne und ich halten es für geboten, diese Woche über Mut zu reden. Sehr mutig finden wir die Proteste in Iran, die mittlerweile seit mehr als zwei Monaten andauern. Auslöser war der Tod einer jungen Frau, die nach Ansicht der Sittenpolizei ihr Haar nicht korrekt bedeckte.
Längst ist es kein Protest gegen das Kopftuch, sondern gegen das System, beherrscht von religiösen Fanatikern. Die wehren sich mit Gewalt, lassen Zigtausende Demonstranten einsperren und wollen viele davon hinrichten. Trotzdem zu protestieren, sich nicht einschüchtern zu lassen – das ist echter Mut!
Ebenso mutig finden wir die Menschen, die in der Ukraine russischen Attacken trotzen. Diese Woche war Kiew nach Luftangriffen ohne Strom und ohne Wasser. Ein Video aus einem Krankenhaus zeigt, wie Ärzte ein Kind am Herzen operieren – beim Licht einer Taschenlampe. Menschen versuchen mutig, ihr Leben zu leben. Wir würden, da sind Frau Dr. Bohne und ich uns einig, eiligst flüchten vor dieser Lebensgefahr. So mutig wie die Leute dort wären wir wahrscheinlich nicht.
Mut ist, trotz Angst etwas zu tun. Aber ich finde, Frau Dr. Bohne übertreibt manchmal mit ihrem Mut. Bisweilen hält sie sich für den einzigen Hund mit einer Daseinsberechtigung. Alle anderen Hunde seien ignorierens-, wenn nicht verachtenswert. Dabei legt sie sich sogar mit Artgenossen an, die dreimal so groß sind wie sie und sie mal eben als Leckerli verspeisen könnten. Das ist nicht mutig, das ist hitzköpfig.
Aber vielleicht weiß sie, dass ich sie beschütze. Dass sie null Risiko trägt bei all ihrem Gebell und Geknurre und Zähnefletschen. Das nennt man dann Gratismut. Kaum habe ich „Gratismut“ ausgesprochen, sagt Frau Dr. Bohne: „Ah, die deutsche Fußballnationalmannschaft!“ Die ist tatsächlich eingeknickt vor der Fifa („Korrupter Laden!“, findet Frau Dr. Bohne), Kapitän Manuel Neuer hat auf das Tragen der „One Love“-Armbinde, die für Toleranz und Vielfalt steht, verzichtet.
Stattdessen hielten sich die deutschen Spieler für ein Gruppenfoto die Hand vor den Mund. „Als Zeichen, dass die Fifa ihre Meinungsfreiheit einschränkt“, sage ich. „Oder dass sie besser ihren Mund halten“, entgegnet Frau Dr. Bohne. „Diese Hasenfüße!“ Okay, sie hat den Begriff Gratismut also verinnerlicht und versucht nun, von ihrem eigenen Gratismut abzulenken.
„Apropos Fußball: Die iranische Nationalmannschaft ist wirklich mutig!“, sage ich. „Die haben ihre Nationalhymne nicht mitgesungen, als Zeichen des Protests gegen das Mullah-Regime.“ Frau Dr. Bohne sagt: „Stimmt, aber kaum jemand bemerkt, dass diese Mannschaft in Iran von vielen Menschen kritisch gesehen wird, weil sie überhaupt zur Weltmeisterschaft nach Katar gefahren ist.“ Ich bin erstaunt. „Wirklich?“ – „Wirklich“, sagt Frau Dr. Bohne.
Wenig mutig finden wir – schon immer – Leute, die anonym im Netz pöbeln. Überwiegend rechtsextreme Trolls, oft Islamisten. Diese Woche sind es Leute aus der „woken“ Ecke. Sie bewerten Kritik an der deutschen Mannschaft, sie sei „rückgratlos“, als „ableistisch“, also als behindertenfeindlich. „Rückgratlos“ solle man nicht sagen, fordern sie. Darf man so sehen.
Frau Dr. Bohne und ich haben lange diskutiert und kommen zu dem Schluss, dass wir das anders sehen, und wurden daraufhin im Internet wüst beschimpft. „Knechte“ seien wir, Behinderte seien uns „scheißegal“, wir seien „Hundesöhne“ – letzteren Begriff weise ich komplett zurück, Frau Dr. Bohne lediglich die Bezeichnung „Söhne“. Unterm Strich finden wir die Debatte hirnlos.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Greenpeace-Vorschlag
Milliardärssteuer für den Klimaschutz
Katja Wolf über die Brombeer-Koalition
„Ich musste mich nicht gegen Sahra Wagenknecht durchsetzen“
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen