Fußball in der Ukraine: Kritische Infrastruktur
Das Land ringt um neue Regelungen zur Mobilisierung. Dass Fußballer bei der Einberufung Privilegien genießen, kommt nicht nur gut an.
Bis vor Kurzem wurde versucht, eine öffentliche Debatte darüber, warum bestimmte Fußballer nicht eingezogen werden, zu verhindern. Als der Spielbetrieb in der zweiten Jahreshälfte 2022 wieder aufgenommen wurde, hieß es von Seiten des Sports und der Politik, man wolle die Bevölkerung zumindest ein wenig von den Schrecken des Krieges ablenken.
Getroffen wurde die Entscheidung zum Restart auf allerhöchster staatlicher Ebene. Tatsächlich war es Wolodimir Selenski, der Präsident der Ukraine, der im Alleingang angeordnet hatte, die Mobilisierung von Fußballern während der Wettbewerbe zurückzustellen. Später allerdings verschwand diese Anweisung aus allen offiziellen Dokumenten, mit der die Wiederaufnahme des Spielbetriebs geregelt wurde.
Und so ist es letztlich einem Zufall geschuldet, dass bekannt wurde, wie Fußballer der Mobilisierung entgehen können. Ende Dezember 2023 wurde gemeldet, dass etliche Spieler des Erstligaklubs Obolon Kyjiw Einberufungsbescheide zur Armee erhalten hätten. Alexander Resnitschenko, der Manager von Obolon, erklärte daraufhin, dass die Kicker eigentlich zurückgestellt worden seien, weil sein Klub den Status als eine Einrichtung habe, die „für die Wirtschaft des Landes von entscheidender Bedeutung“ sei.
„Es ist doch so“, erklärte Resnitschenko, „dass man dann seine Mannschaft gleich ganz aus dem Wettbewerb zurückziehen kann, wenn die Spieler einberufen würden, ganz einfach weil dann keiner mehr da ist, der Fußball spielen kann.“
Wachsender Unmut
Schnell verschwand dieses Statement über den Klub als „Unternehmen der kritischen Infrastruktur“ wieder aus der öffentlichen Kommunikation von Obolon. Doch die Äußerungen hatten bereits für Unmut bei vielen in der Ukraine gesorgt. „Erzeugen die etwa Strom?“, fragten viele Ukrainer in den sozialen Medien.
Andere machten darauf aufmerksam, dass Angehörige der Klubeigner oder -manager Jobs als Trainer oder Betreuer angenommen hätten, um vor der Einberufung sicher zu sein und ungehindert ins Ausland reisen zu können. Auch wurde darauf hingewiesen, dass derartige Privilegien nur für Klubs der Eliteliga, nicht aber für Zweit- und Drittligisten gelten.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass etliche Klubs zum Gesetzesbruch neigen, um in dieser Hinsicht auf Nummer sicher zu gehen. Im Herbst 2023 wurde zum Beispiel bekannt, dass bei Prikarpatije Iwano-Frankiwsk, einem Zweitligisten in der Westukraine, Spieler pro forma bei einem Sicherheitsunternehmen angestellt wurden, um eine Einberufung zu verhindern.
Ermittlungen haben ergeben, dass sieben Spieler des Geld für Dienste als Objektschützer kassiert hatten, während sie nichts anderes taten, als für ihren Klub Fußball zu spielen. Prikarpatije widersprach der Darstellung, wonach Spieler kicken, während sie zur selben Zeit eigentlich Dienst bei der Security schieben. Sie trügen echte Dienstkleidung und würden wichtige Objekte in der Region bewachen.
Verweigerte Auslandsreisen
Diskussionen über die Wehrgerechtigkeit im Sport kochten nun im Januar wieder hoch. Da wurde dem Zweitligaklub Karpaty Lwiw von der Regierung verboten, zu einem Wintertrainingslager nach Spanien zu reisen. Nun bereitet sich der Klub in der Ukraine auf die Rückrunde der Meisterschaft vor. Grundlage für die Entscheidung war eine Regelung, nach der es nur Erstligisten erlaubt ist, im Ausland zu trainieren.
Die Einschränkungen der Reisefreiheit von Fußballern erscheinen vor dem Hintergrund etlicher Fluchtgeschichten ins Ausland nachvollziehbar. Sie haben das Vertrauen in die Klubs erschüttert. Da ist zum Beispiel die Geschichte des 19-jährigen Nachwuchsspielers Alexander Rasputko von Schachtar Donezk. Der ist seit dem Spiel seines Teams gegen Royal Antwerpen in der Youth League der Uefa im vergangenem Oktober verschwunden.
Bei der Suche nach dem Spieler fand man nicht mehr als ein sorgfältig zusammengefaltetes Trikot. Raspukto stammt aus der Stadt Horlivka im von den Russen okkupierten Teil des Donezker Gebietes. Er hat all seine Postings in sozialen Netzwerken gelöscht und beantwortet keine Anrufe mehr. Über seinen Aufenthaltsort ist nichts bekannt. Unbestätigten Behauptungen zufolge könnte er sich in Russland aufhalten.
Eine andere Fluchtgeschichte hat ihren Ursprung im zentralukrainischen Eisenerz- und Stahlrevier Kryvbas. Der Social-Media-Redakteur und ein Fotograf des Klubs waren mit der Frauenmannschaft von Kryvbas Kryvyi Rih im September des vergangenen Jahres nach Schweden zu einem Qualifikationsturnier für die Champions League gereist und setzten sich dort ab.
Um die Regulierung von Auslandsreisen sowie den Umgang mit Einberufungen muss sich nun der neue Präsident des ukrainischen Fußballverbands Andrij Schwetschenko kümmern. Der steht für das gleiche Recht für alle. Dazu jedenfalls hat er am Vorabend seiner Wahl am 25. Januar bei einer Befragung Auskunft gegeben.
Aus dem Russischen: Andreas Rüttenauer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“