piwik no script img

Furcht vor IS-KämpfernSyrische Kurden fliehen in die Türkei

Milizionäre des „Islamischen Staats“ bedrohen die syrisch-kurdische Großstadt Kobane. 70.000 Flüchtlinge erreichen die Türkei. Nun ist die Grenze zu.

Syrische Flüchtlinge an der türkischen Grenze. Bild: reuters

ISTANBUL taz | „Es ist eine Tragödie, die sich hier abspielt, und niemand ist da, um zu helfen“. Heike Hänsel, Bundestagsabgeordnete der Linken, die gestern die türkisch-syrische Grenze gegenüber der kurdischen Stadt Kobane (arabisch Ain al-Arab) besuchte, berichtete am Telefon der taz, dass die türkische Armee die Grenze am Sonntag gesperrt hat und niemanden mehr hineinlässt, nachdem am Samstag nach UN-Angaben noch 70.000 syrische Kurden vor der angreifenden Miliz des sogenannten Islamischen Staates in die Türkei geflüchtet waren.

„Auf der türkischen Seite hat die Armee mittlerweile eine Sperrzone errichtet, in die sie niemanden mehr hineinlässt. Kurdische Angehörige, die ihren Verwandten, Freunden und Bekannten auf der anderen Seite der Grenze zu Hilfe eilen wollten, werden gewaltsam daran gehindert, die Sperrzone zu betreten. Armee und Polizei setzen Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Leute zu vertreiben“, sagte Hänsel.

Seit Anfang letzter Woche haben IS-Truppen eine breit angelegte Offensive auf ein syrisch-kurdisches Autonomiegebiet entlang der türkischen Grenze unweit der türkischen Millionenstadt Urfa begonnen. Nach kurdischen Angaben sind die IS-Milizen schwer bewaffnet und rücken mit Panzern und Artillerie auf Kobane vor. Insgesamt 60 Dörfer innerhalb des Autonomiegebiets hätten IS-Terroristen bereits erobert, was den Flüchtlingsexodus in Richtung Türkei ausgelöst hat. Tagelang hatte die türkische Armee die syrischen Kurden, deren wichtigste Partei, DYP, mit der türkisch-kurdischen PKK verbündet ist, daran gehindert, die Grenze zu überqueren. Verwandte von ihnen in der Türkei waren daraufhin demonstrierend und Steine werfend gegen die Armee angegangen. Daraufhin wurde die Grenze am Freitagnachmittag geöffnet, bis Samstagnacht zogen Zehntausende flüchtende syrische Kurden über acht Checkpoints in die Türkei.

Seit Sonntag hat die Armee die Grenze de facto wieder dichtgemacht, obwohl es offiziell heißt, es kämen noch Leute hinüber, sie würden aber zuvor einzeln nach Waffen und Drogen durchsucht. Präsident Erdogan hat angekündigt, auf türkischer Seite entlang der 900 Kilometer langen syrischen Grenze eine Pufferzone einzurichten, um ein unkontrolliertes Einsickern in die Türkei zu verhindern.

Die Türkei wird der PKK nicht helfen

Mittlerweile hat sich die Situation um Kobane, die größte Stadt der kurdischen Zone auf syrischer Seite, dramatisch verschärft. Aus den ursprünglich 100.000 Einwohnern sind inzwischen 450.000 geworden, die vor IS und dem Krieg in Syrien in die einstmals sicher geltende Stadt geflüchtet waren. Nach kurdischen Angaben stehen IS-Milizen 12 Kilometer vor der Stadt und könnten mit ihren Panzern jederzeit weiter vordringen. „Warum hilft niemand den syrischen Kurden“, fragte gestern Ahmet Türk, der kurdische Bürgermeister von Mardin, unweit der syrischen Grenze. Türk, ein bekannter Politiker in der Türkei, weiß, warum. Die türkische Armee denkt nicht daran, Anhängern der PKK zu helfen, die sie 30 Jahre lang bekämpft hat.

Die USA denken zwar über Luftangriffe gegen die Terroristen des „Islamischen Staats“ auch in Syrien nach, wollen dafür aber erst einen UN-Beschluss von der ab Dienstag in New York beginnenden UN-Vollversammlung erhalten. So sind die Kurden aus der Türkei die Einzigen, die Kämpfer nach Syrien hinüberschicken. Zwischen 300 und 1.000 sollen es in den letzten Tagen, als die Grenze offen war, gewesen sein. Doch ohne wirksame Waffen werden auch sie nicht in der Lage sein, den drohenden Massenmord in Kobane zu verhindern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Wieder etwas dazugelernt dank Heike Hänsel. Flüchtlinge sind nicht gleich Flüchtlinge. Syrische Kurden stehen offenbar in der Hierarchie ganz weit oben, wohingegen die nordkaukasische Diaspora in Syrien, die in dem Konflikt neutral zu bleiben versuchte, damit in besonderem Maße zwischen die Fronten geriet und von Putin auch jetzt kein Recht auf Rückkehr in den Nordkaukasus erhält, in der internationalen Sympathie-Rangfolge so weit abgeschlagen ist, daß man sie gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen oder gar zu erwähnen braucht. Auch dann nicht, wenn man ansonsten stets und überall mit Nachdruck dafür eintritt, daß man "immer mit allen reden" müsse. Aber dieser "differenzierende" Umgang mit all den lästigen Oppositionellen, aggressiven Minderheiten und dem ganzen Demokraten-Pack hat sich ja schon in Bezug auf Rußland und Putin bestens bewährt. Und wie war das noch mal mit den Fluchtgründen der Syrer gewesen? Ach so ja, das Thematisieren von Folter und Unterdrückung durch Assad sollte man auch besser weglassen, stört es doch das "Gesprächsklima" (http://linksfraktion.de/im-wortlaut/gespraeche-montreux-sollten-torpediert-werden/). Ich nehme an, es wäre ebenso auf naive Weise zu kurz gedacht und unendlich kontraproduktiv, wenn man erwähnen wollte, daß Putin für Waffen- und Drohnenlieferungen an Assad verantwortlich ist? Möglicherweise würde das dann ja den Frieden in der Ukraine bedrohen.

  • Die Türkei verspricht den Kurden seit Jahren alles mögliche. Jetzt versprechen sie hier mal gar nichts und entsprechend sieht die Situation auch aus. Für mich hat die Türkei einen Deal gemacht. Das Ergebnis ist auch eingetreten. Aber diese ISIS-Jihadis werden sich Erdogan noch zur Brust nehmen - die lehnen die AKP auch ab, die respektieren nichts.

  • D
    D.J.

    Ich war vor Jahren mal in Raqqah, der heutigen Quasi-Hauptstadt von IS-Syrien. Kann mich nicht an besonders unübersichtliches Gelände oder besonders dichte Besiedelung der Umgebung erinnern. Ein Blick auf Google-Maps bestätigte mir, dass es zwischen Raqqah, von wo die IS-Kämfer wohl kommen, und 'Ayn al-'Arab/Kobane nicht viel anders aussieht. Mir ist rätselhaft, warum es nicht möglich sein sollte, durch Luftsangriffe den IS-Kämpfern den beschwerlichen Weg zu den Jungfrauen, den Bächen voll Wein und den jungen Mundschenken zu erleichtern und dadurch die Bevölkerung zu retten.

     

    Btw: Wer meint, seine Hände besonders sauber halten zu können, hat schon öfter fetstgestellt, dass am Ende des Tages an ihnen der meiste Dreck klebte.