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Für alle sichtbar sein

Erst hat sie sich zurückgehalten, jetzt steht Linn Bade im Rampenlicht. Auch, weil sie andere Menschen mit Behinderung ermutigen will

Erst kürzlich machte die 24-Jährige ihre trans Identität öffentlich

Von Valérie Braungardt (Text) und Wolfgang Borrs (Fotos)

Wie soll sie herausfinden, wer sie ist, wenn es so viele verschiedene Rollenzuschreibungen gibt, aber keine davon richtig passt?

Draußen: Von der Hauptstraße führt ein Fußgängerpfad zwischen Bäumen und Büschen in eine Wohnsiedlung in Berlin-Marienfelde, erbaut in uniformer Nachkriegsarchitektur, als wären alle und alles gleich. Nach dem Krieg war das ja in gewisser Weise auch so. Auf einer kleinen Rasenfläche vor dem Haus steht einzig eine Rutsche. Einst war sie bunt, mittlerweile sind die Farben ausgeblichen. Zur Mittagszeit hängt der Geruch von deftigem Essen zwischen den Häusern. Auf einem Balkon plaudern zwei Frauen auf Polnisch.

Drinnen: Am Meer. Im Wohnzimmer geht es maritim zu. Eine Wand ist hellblau gestrichen, auf Regalen stehen kleine Schiffchen, auf dem Fensterbrett liegt eine große Muschel. Zwei schwarze Katzen huschen durch den Flur, eine faucht die andere an. „Die beiden haben sich eben noch gezofft“, erklärt Linn Bade den zickigen Auftritt.

Vorurteile: Aus dem Badezimmer tritt eine junge Frau. Sie ist eine von neun Assistenzkräften, die Bade abwechselnd im Alltag unterstützen. Denn die 24-Jährige hat von Geburt an Spastiken, wodurch ihre Motorik eingeschränkt ist. „Mein Leben fing schon von Minute eins an, anders zu werden als das typische. Bei meiner Geburt hatte ich Sauerstoffmangel. Dadurch sind Schädigungen in meinem Gehirn.“ Dass Linn Bade mit ihren Katzen in einer eigenen Zweizimmerwohnung lebt, wird durch die Teilhaberegelungen im Sozialgesetzbuch möglich. Aber Selbständigkeit und Unabhängigkeit – das passe für viele bis heute nicht ins Bild von Menschen mit Behinderung. „Ich erlebe oft, dass mir Menschen nicht auf Augenhöhe begegnen“, sagt sie. In welchen Situationen genau? „Wenn Fremde mit mir reden, als wäre ich ein kleines Kind. Wenn sie mich ungefragt anfassen, weil sie mich stützen wollen. Viele denken zudem, dass ich geistig behindert bin.“

Barrieren: Natürlich nerven sie solche sich immer wiederholenden Erfahrungen. „Ich will ja wie alle anderen auch nur nach Hause, ohne mich ständig erklären zu müssen.“ Die größte Hürde auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft, meint sie, seien die Barrieren in den Köpfen. „Klar, die Leute meinen es oft nicht so, meistens sind sie selbst einfach unsicher.“

Sonderweg: Linn Bade ist gemeinsam mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester in Berlin-Marienfelde aufgewachsen. Als Kind stand sie oft ungewollt im Mittelpunkt der Familie, weil sie aufgrund ihrer Behinderung mehr Aufmerksamkeit von den Eltern benötigte. „Es war für meine Eltern schwierig, die Balance zu halten, damit meine Geschwister sich nicht vernachlässigt fühlten.“ Ganz in der Nähe ihrer jetzigen Wohnung besuchte sie früher eine Förderschule, gemeinsam mit anderen Kindern, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ins normative Raster passten. Ob sie im Rollstuhl saßen, autistisch waren oder das Down Syndrom hatten. In der Schule mochte Bade am liebsten Mathe, zumindest bis zur Oberstufe. Mit Sprachen hingegen stand sie immer auf Kriegsfuß.

Ziele: Nach der Schule wollte sie Mediengestalterin werden, aber auf ihre Bewerbungen bekam sie kaum Antworten. Dabei kann sie dank technischer Hilfsmittel problemlos am Computer arbeiten. Nach einem Jahr vergeblicher Suche entschied sie sich für eine Ausbildung als Mediengestalterin, die speziell für Menschen mit Behinderung ausgeschrieben war. Die war ein Albtraum, findet sie: „Fernab jeder Realität, ohne Kundenkontakt, reine Beschäftigungstherapie. Die Hälfte der Zeit war ich nur am Handy, weil es so langweilig war.“

Dank technischer Hilfsmittel kann sie problemlos am Computer arbeiten

Leerstelle: Als Kind habe sich Linn Bade lieber im Hintergrund gehalten, redete wenig, zweifelte oft. Heute tritt sie souverän vor großen Gruppen auf und spricht über Inklusion. Damals hätten ihr Vorbilder gefehlt, mit denen sie sich identifizieren konnte – Menschen, die mit einer Behinderung sichtbar und selbstverständlich in der Öffentlichkeit stehen. Was sie nicht hatte, sollen andere jetzt durch sie bekommen.

Vorbild: Deshalb klärt sie auf, engagiert sich, organisiert Projekte. Sie will, dass Betroffene den ihnen vorgezeichneten Sonderweg verlassen, eigensinnig bleiben und eigenständig werden. Ich möchte für andere das Vorbild sein, das mir früher selbst gefehlt hat.“ 2015 startete sie deswegen zusammen mit ihrem besten Freund ihr erstes Projekt. Sie schrieben ein Onlinelexikon zum Thema Behinderung in leichter Sprache. „A“ wie „Angeborener Herzfehler“, „Autismus“, „Ataxie“, …

Soziale Medien: Später begann sie auch, auf Instagram kurze Videos zum Thema zu posten. „Die Arbeit vor der Kamera macht mir Spaß.“ Ihr gefällt es, dass sie dabei auf unterschiedliche Weise kreativ werden kann. Und sie möchte damit auch was bewirken. „Ich mag es, meine Geschichte weiterzugeben und vielleicht auch anderen Menschen mit Behinderung Mut zu geben, sich nicht verstecken zu müssen.“ Weil Linn Bade mehr davon will, bewirbt sie sich kurzerhand bei einer Komparsen-Agentur. Bingo. Kurz danach spielt sie in einer großen Produktion mit, in „Einfach mal was Schönes“, dem Kinofilm von Karoline Herfurth. Dort steht sie als Emin in einer Nebenrolle vor der Kamera. „Für mich war das eine komplett neue Erfahrung, ich wusste überhaupt nicht, was wie abläuft, fand mich aber sehr schnell rein und liebe einfach die Arbeit am Set.“ Gerade spielt sie schon bei ihrem nächsten Dreh mit. Diesmal in einer wesentlich größeren Rolle, die ihre Schauspielkünste noch stärker herausfordert. „Das gewisse Etwas“ kommt im Herbst 2026 ins Kino.

Zur Mittagszeit riecht es zwischen den Häusern der Siedlung nach deftigem Essen

Hilfe: In ihren Instagram-Videos spricht Linn Bade unter anderem über persönliche Assistenz. Ohne die könnte sie nicht in ihrer eigenen Wohnung leben. Die Kehrseite: „Immer ist jemand da, obwohl ich manchmal gern alleine wäre.“ Bade beschäftigt derzeit neun Assistenzkräfte, meist in Teilzeit. Für deren Gehälter erhält sie ein monatliches Budget von der Pflegekasse. Damit führt sie im Grunde ein kleines Unternehmen, inklusive aller Aufgaben, die dazugehören. Dienstpläne, Abrechnungen, Verträge. „Meine Assistenzkräfte sind nicht meine Freunde“, betont sie. „Von Angestellten kann ich etwas verlangen, Freun­d:in­nen kann ich höchstens um einen Gefallen bitten.“ Klar definierte Rollen machen vieles einfacher: „Wenn jemand zum Beispiel immer zu spät kommt, soll es für mich kein Problem sein, die Person zu feuern.“ Sie erwarte, dass auf sie eingegangen wird. „Ich hasse es, wenn jemand einfach die Bude aufräumt. Wenn ich in einem Saustall leben möchte, dann ist das so.“

Wandel: Seit fünf Jahren nähert sich Linn Bade Stück für Stück ihrer weiblichen Identität. Es hat eine Weile gedauert, bis ihr klar wurde, dass sie trans ist. „Als Kind hatte ich keinen Bock auf die typischen Jungsklamotten, das habe ich aber nie so ernst genommen.“ Sie bewunderte schon immer männlich gelesene Menschen, die sich feminin kleideten, doch sie zog nie in Betracht, dass das auch etwas für sie sein könnte. Erst mit 20, als sie bei den Eltern auszog und zum ersten Mal alleine mit Assistenz lebte, drängten sich ihr Zweifel an ihrer Geschlechts­identität auf. Um auszuprobieren, ob sie sich in Kleidung aus der Damenabteilung wohlfühlt, brauchte sie Hilfe. Sie vertraute sich zuerst einer Assistenzkraft an. „Das war gar nicht so leicht.“ Die Assistenzkraft brachte ihr ein paar ihrer eigenen Kleider und Blusen mit. „Seit diesem Tag wollte ich nichts anderes mehr tragen. Ich habe mich so frei gefühlt wie nie zuvor.“

Ehrlichkeit: Kürzlich hat sie ihren Namen auf Instagram geändert. Von Linus zu Linn. Der Schritt fiel ihr nicht leicht. Aus Angst, ihr Umfeld neben der Behinderung auch noch mit ihrer trans Identität zu belasten, verdrängte sie es lange. „Ich habe mir gedacht: Du bist ja schon behindert, das muss ja nicht auch noch sein.“ Doch bestärkt durch Freund:innen, die immer hinter ihr standen, traute sie sich schließlich zu sagen, dass sie ab jetzt Linn heißen möchte. Ihre Freun­d:in­nen atmeten auf, viele hatten es bereits geahnt. Ihre Familie brauchte etwas länger, sich daran zu gewöhnen. Aber jetzt ist sie froh, den Schritt gegangen zu sein, obwohl sie ihren alten Namen auch manchmal noch vermisst. „Es bringt nichts, mir etwas vorzumachen, nur um es anderen recht zu machen“, sagt Bade.

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