Für Deutschen Buchpreis nominiert: Verzaubert von Jim Knopf und Li Si
In „Herzfaden“ beleuchtet Thomas Hettche die frühen Jahre der Augsburger Puppenkiste. Der Roman ist Hommage – und leicht wehmütig.
Eher selten bietet Vergangenheit Grund für ungetrübte Nostalgie. Die deutsche ohnehin nicht. Auch die Geschichte einer so kindlich-unschuldig anmutenden Angelegenheit wie der Augsburger Puppenkiste fordert von einem, der darüber schreiben will, einen besonderen Doppelblick, denn das berühmte Marionettentheater nahm seinen Anfang während des Zweiten Weltkriegs.
Der Schauspieler und Regisseur Walter Oehmichen hatte, als Soldat zu Beginn des Kriegs in Frankreich stationiert, in einem von der Wehrmacht requirierten Schulgebäude ein paar Handpuppen gefunden.
Die Stegreifaufführungen, die er damit vor seinen Kameraden in Szene setzte, machten allen so viel Freude, dass er nach der Rückkehr ins heimatliche Augsburg mit dem Aufbau eines kleinen Puppentheaters begann. Walter Oehmichen schnitzte Marionetten, seine Frau Rose nähte die Kostüme, und auch die beiden Töchter, damals noch Kinder, wurden als Marionettenspielerinnen mit eingebunden.
1943 debütierte die Familie vor Augsburger Publikum mit einer selbst gebauten Puppenbühne, „Puppenschrein“ genannt. Dieser Schrein wurde bei einem Bombenangriff zerstört und später von Walter Oehmichen durch eine kleinere, leichter zu transportierende Bühne ersetzt: Die „Puppenkiste“ war geboren.
Thomas Hettche: „Herzfaden“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 288 Seiten, 24 Euro
Besonders die jüngere Oehmichen-Tochter, Hannelore (1931–2003), war sehr engagiert bei der Sache. Sie begann bereits mit 14 Jahren, selbst Marionetten zu schnitzen, und löste als Erwachsene den Vater ganz als Schnitzerin der Figuren – und später als Theaterleiterin – ab. Etwa 6.000 Marionetten, weiß Wikipedia, schnitzte Hannelore Oehmichen-Marschall im Laufe vieler Jahre für die Augsburger Puppenkiste. Es ist vor allem ihre Geschichte, die Thomas Hettche in „Herzfaden“ erzählt.
Auf einem geheimnen Dachboden
Die Optik des Romans – das Schriftbild ist zweifarbig und wechselt die Farbe mit der Erzählebene – stellt eine „kleine Hommage“, wie der Autor sagt, an Michael Ende dar, und auch der Aufbau ist dessen „Unendlicher Geschichte“ entlehnt. Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ war eine der bekanntesten Produktionen der Augsburger Puppenkiste, und umgekehrt trug auch die Puppenkistenbearbeitung des Stoffs und ihre Ausstrahlung im Fernsehen immens zu dessen Popularität bei.
In der Rahmenhandlung von „Herzfaden“ gerät ein Mädchen, das sich nach dem Besuch eines Puppentheaters von ihrem Vater losgerissen hat, auf einen geheimen Dachboden im Theatergebäude. Selbst auf Marionettengröße geschrumpft, trifft das Mädchen dort auf eine Reihe bekannter Figuren aus Produktionen der Augsburger Puppenkiste – und auf eine elegante Dame in weißem Kostüm: Es ist Hatü, wie Hannelore Oehmichen von ihrer Schwester Ulla genannt wurde, die dem Mädchen nun ihre Geschichte erzählt.
Trotz zweifarbiger Optik und Michael-Ende-Hommage: „Herzfaden“ ist kein Kinderbuch. Kann sein, dass es am meisten ein Buch für jene ist, die Kinder waren, als einst die Augsburger Puppenkiste eines der größten Highlights im spärlichen Fernsehprogramm darstellte. Darüber hinaus aber führt „Herzfaden“, unaufdringlich und traumwandlerisch, auch in noch frühere Zeiten, und spinnt feine Bezüge zwischen damals, heute – und auch jenem anderen, dem bösen Damals.
Aus der Perspektive von Hatü, die acht Jahre alt ist, als der Krieg beginnt und der Vater eingezogen wird, bildet das faschistische Deutschland halt die Umwelt, in der sie aufwächst. Ein Lehrer, der besonders linientreu agiert, bekommt einen Spitznamen verpasst, und Hatü vermisst eine jüdische Klassenkameradin, aber ansonsten passen die Oehmichens sich an.
Hatü und Ulla sind im BDM, und Vater Oehmichen muss nicht mehr in den Krieg, weil er als Spielleiter beim Theater arbeitet (diese Tatsache wird allerdings nur sehr nebenbei erwähnt: Nach dem Krieg sagt der Vater, er könne wegen dieser Position nicht entnazifiziert werden).
Hettche erfindet eine Szene, in der Hatü befremdet ist über den Eifer, mit der ihre Schwester ein Nazilied singt, und eine andere, in der sie betroffen auf das Elend jüdischer Bekannter reagiert. Später eine weitere, in der Hatü als junge Erwachsene unangenehm berührt registriert, dass auf einer Premierenfeier der „Puppenkiste“ zahlreiche ehemalige Nazi-MitläuferInnen zugegen sind.
Der kleine Prinz und Jim Knopf
Es ist eine Gratwanderung, denn der Autorenwille, der Hauptfigur ein quasi angeborenes antifaschistisches Bewusstsein einzuschreiben, wird allzu deutlich sichtbar.
Auf der anderen Seite sprechen die Projekte der Augsburger PuppenspielerInnen für sich. „Der kleine Prinz“ wurde 1951 für das Marionettentheater adaptiert – Hannelore Oehmichen schnitzte die Figur –, als das Buch in Deutschland noch nicht Allgemeingut war.
Noch wagemutiger war das jugendliche Ensemble, als es um das 1960 gerade neu erschienene „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ des damals noch unbekannten Michael Ende ging. Wer weiß, wie dessen Karriere ohne die Marionetten verlaufen wäre!
Kulturgeschichte zum Nacherleben
Als das öffentliche deutsche Fernsehen noch in seinen Pioniertagen steckte, lief „Jim Knopf“ 1961 schon in Schwarz-Weiß über die vorhandenen Bildschirme. Das erste Puppenkisten-Stück, das im Fernsehen gezeigt wurde, war allerdings „Peter und der Wolf“ gewesen – und das live, denn im Jahr 1953 gab es noch keine Möglichkeit der Aufzeichnung.
Auch dieses historische Ereignis hat Eingang in Hettches Roman gefunden, atmosphärisch eindrucksvoll nachvollzogen. Die extreme, durch die großen Scheinwerfer hervorgerufene Hitze im Hamburger Studio, in dem die PuppenspielerInnen ohne das vertraute Publikum agieren müssen; im Kontrast dazu der schneidend kalte Januartag draußen; ein nächtlicher Ausflug in die Hamburger Hafengegend, den das junge Augsburger Team nach der Übertragung unternimmt – so hätte es alles gewesen sein können.
Es ist ein fesselndes kleines Stück Kulturgeschichte zum Nacherleben.
Zusammenarbeit mit dem Fernsehen
Die enge Zusammenarbeit mit dem Fernsehen sollte nach dieser Premiere ein wichtiges Standbein für die „Puppenkiste“ werden, und Walter Oehmichen entkoppelte die TV-Produktionen recht bald von jenen Aufführungen, die für die Bühne entstanden. Beide „Jim Knopf“-Bücher wurden 1961/62 als Fernsehserie produziert. Wohl nur wenige Menschen werden sich heute noch an diese Produktion erinnern; viele später Geborene dagegen ziemlich wahrscheinlich an die Neuproduktion in Farbe, die 1976 entstand und oft wiederholt wurde.
Selbstverständlich gehört Jim Knopf zu den Marionetten, denen das Mädchen in der Rahmenhandlung des Romans auf dem Dachboden begegnet, und wird zu ihrem treuesten Begleiter. Auch Prinzessin Li Si kommt vor, ebenso das Urmel, der kleine Prinz und Kalle Wirsch, der König der Erdmännchen. Dunklen Symbolcharakter verleiht Hettche einer Kasperfigur, vor der die junge Hatü, obgleich sie selbst sie geschnitzt hat, sich in ihrer Jugend aus scheinbar unerklärlichen Gründen fürchtet.
In der heutigen Rahmenhandlung wiederum klaut derselbe Kasper, zu unheimlicher Größe angewachsen, dem Mädchen sein iPhone (etwas merkwürdig übrigens, dieses Product Placement), so dass es kein Licht mehr machen kann. Als einzige Lichtquelle – außer dem Mond – auf dem dunklen Dachboden spielt das Telefon eine vergleichsweise große Rolle für die Rahmenhandlung.
Smartphone als neues Zeitalter
Die existenzielle Bedeutung, die das Gerät für das Mädchen hat, wird durchaus etwas überbetont. Hettche verzichtet zwar darauf, Smartphone und Puppentheater als potenziell gegensätzliche Kulturträger gegeneinander auszuspielen. Beide finden im Roman ihren Platz – und doch signalisiert die dominante Präsenz des in der Dunkelheit so tröstlich leuchtenden Smartphone-Screens auch den Anbruch eines neuen Zeitalters.
„Herzfaden“ ist vieles gleichzeitig: literarische Geschichtsstunde, Spiel mit Erzähltraditionen, künstlerische Hommage. Aber eben auch ziemlich nostalgisch im Sinne von: ein klein wenig wehmütig. Da war was, das kommt nicht wieder.
Ja, klar gibt es sie noch, die Augsburger Puppenkiste. Aber dass diese kleinen hölzernen Figuren einst so große Bedeutung für die kulturelle und humanitäre Bildung praktisch der ganzen westlichen Hälfte des jungen Nachkriegsdeutschlands hatten, das hatte man ja schon fast vergessen. Im Lichte des unermüdlich leuchtenden Smartphones wirkt die Geschichte von Hatü und ihren Figuren wie ein Märchen aus ganz alten Zeiten.
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