Fünf Jahre Flüchtlingskirche Kreuzberg: „Unsere Räume stehen allen offen“
Wegen Corona gibt es keine Feier – die wird nächstes Jahr nachgeholt. Die Flüchtlingskirche in Kreuzberg wurde vor fünf Jahren eröffnet. Ein Besuch.
Gäbe es Corona nicht, würde diese Woche hier Geburtstag gefeiert werden. Denn am Mittwoch vor fünf Jahren wurde die Flüchtlingskirche eröffnet. Bekannt ist sie vor allem für ihre professionelle asylrechtliche Beratung durch spezialisierte Juristen, die für die Hilfesuchenden komplett kostenlos ist und für die sie lange Anfahrtswege und Wartezeit in Kauf nehmen. Im Laufe der fünf Jahre sind andere, ebenfalls kostenlose Beratungsangebote für Geflüchtete hinzugekommen: Sucht-, Sozial- und Migrationsberatung sowie Beratung zum Kirchenasyl und Deutschkurse für solche Flüchtlinge, die keinen Anspruch auf staatliche Kurse haben.
Die Einrichtung der Flüchtlingskirche im Jahr 2015 geht auf einen Beschluss der Landessynode der evangelischen Kirche zurück, die eine Million Euro Anschubfinanzierung bereitgestellt hatte. Mitten in der Flüchtlingskrise hatte die Kirche Verantwortung übernommen, die staatliche Infrastruktur zur Integration von Geflüchteten ergänzt. Seitdem trägt sie die Flüchtlingskirche gemeinsam mit dem Diakonischen Werk Berlin-Stadtmitte. Dazu kommen Projektgelder beispielsweise von der Aktion Mensch oder der Deutschen Fernsehlotterie.
Die Geburtstagsfeier, sagt Pfarrerin Ulrike Wohlrab, wird im kommenden Sommer nachgeholt. Denn nur in der warmen Jahreszeit bekäme man das mit den Abstandsregeln hin.
Moderne Kirchengemeinde
Die seien nämlich in der Flüchtlingskirche noch wichtiger als an anderen Orten in Berlin, sagt Leslie Frey. Sie ist Projektleiterin der Flüchtlingskirche. „Unsere Gäste wohnen ja in beengten Wohnverhältnisse. Sie fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln.“ Die Frage, wie man trotz Abstandsregeln eine Gemeinschaft bilden kann und den öffentlichen Raum nicht aufgibt, wird jeden Tag neu beantwortet: Tanzen beispielsweise spielt eine größere Rolle als vor Corona. Ferienprogramme für Kinder fanden im Freien statt. Gemeindemitglieder hielten vor der Kirche Transparente mit der Aufschrift „Flüchtlingskirche gegen Rassismus“ hoch und posteten das auf Facebook, erzählen die beiden Frauen.
Das Wort „Gemeindemitglieder“ kommt Ulrike Wohlrab ganz selbstverständlich über die Lippen, wenn sie von den Männern, Frauen und Kindern spricht, die zu den Projekten wie der Schreibwerkstatt, dem Nähkurs, den Ferienangeboten oder zu Vorträgen zur Politik im Jemen oder im Libanon kommen. „Ich verstehe das als eine Art moderne Kirchengemeinde, denn hier steht die Gemeinschaft im Vordergrund“, sagt sie der taz. „Auch wenn die meisten unserer Besucherinnen und Besucher keine Christinnen und Christen sind, können sie hier ihre Spiritualität leben. Unsere Räume stehen allen offen.“ Neben Beratung, Bildung und Begegnung sei Spiritualität die vierte Säule, die die Flüchtlingskirche ihren „Gemeindemitgliedern“ bieten möchte. Ulrike Wohlrab: „Wir nehmen den ganzen Menschen in den Blick.“
Yasmine Merei ist eine syrische Journalistin, die den anderen Frauen journalistische Genres wie Reportage oder Porträt erläutert und ihnen hilft, sich von der Seele zu schreiben, was sie bewegt. Aus früheren Schreibwerkstätten sind Sammelbände „Weibliche Stimmen in Exil“ entstanden. Dort bricht eine Frau ihre eigenen Erfahrungen in Deutschland mit den Erzählungen ihres Vaters von diesem Land. Der hatte in den 1950er Jahren ein halbes Jahr in einer deutschen Familie gelebt. Andere Frauen schreiben von der Überquerung des Mittelmeers oder von der schwierigen Suche der Tochter nach einer qualifizierten Arbeit.
Die Workshops und Vorträge gehen meist auf Vorschläge von Geflüchteten und ehrenamtlichen Helfern zurück, erzählt Ulrike Wohlrab. „Unsere Aufgabe ist es dann, dafür den Raum zu geben, Gelder zu organisieren und die Angebote miteinander zu vernetzen.“
Für die Nähgruppe kam die Idee von Zinaida Lina, einer Lehramtsstudentin mit Migrationshintergrund. „Ich habe vor meinem Studium eine Schneiderausbildung gemacht und hätte es verschwenderisch gefunden, daraus nichts zu machen“, sagt sie der taz. Die zumeist älteren Teilnehmerinnen können oft sehr gut nähen, haben aber in Deutschland keine eigenen Nähmaschinen. Sie schätzen zudem die sozialen Kontakte in der Frauengruppe. In der Lockdownphase haben die Frauen dringend benötigte Alltagsmasken genäht und sie an medizinische Einrichtungen verschenkt. Ulrike Wohlrab: „Es tat den Frauen gut, sich gemeinsam zum Nähen zu treffen und etwas sinnvolles zu tun.“
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