Führung mit Berlin Postkolonial: Blick in die Vergangenheit
Im öffentlichen Raum gibt es Relikte aus der Kolonialzeit, die sich erst bei genauem Hinsehen offenbaren. Ein Beispiel ist das Relief am Ermelerhaus.
Weiter rechts im Bild sind gut gekleidete Weiße zu sehen. Der eine scheint die Arbeit zu überwachen, den Arm gelassen auf ein Tabakbündel gelegt. Ein anderer liegt Pfeife rauchend am Ufer, die großen Segelschiffe beobachtend. Am Horizont erkennbar: zwei rundliche Türme, die sich aus der Ferne erheben.
Der Name des schmucken weißen Hauses mit Stuckfassade und Sprossenfenstern geht auf den preußischen Tabakhändler Wilhelm Ferdinand Ermeler (1784–1866) zurück. Er kaufte das Gebäude 1824 und machte es zu seinem Verwaltungs- und Produktionssitz, an dem bis zu 300 Arbeiter beschäftigt waren. „Wo kommt der beste Tabak her, merk auf, mein Freund, von Ermeler!“, war seinerzeit der Werbespruch des Unternehmens, das einen der reichsten Tabakhändler des Landes hervorbrachte.
Ende der 1960er Jahre wurde das Haus am Märkischen Ufer neu errichtet, da die Breite Straße, wo es ursprünglich stand, radikal umgebaut wurde.
Hochzeitsfotos vor diskriminierendem Relief
Mnyaka Sururu Mboro wirkt sehr nachdenklich, wenn er heute vor dem Ermelerhaus steht und das Relief über der Eingangstür betrachtet. Er hat vor etwa 40 Jahren Tansania verlassen, um in Deutschland Bauingenieurwesen zu studieren. Über den Umgang der meisten Deutschen mit der kolonialistischen Vergangenheit ihres Landes kann er nur den Kopf schütteln. „Es heiraten Menschen in diesem Gebäude und machen danach ihre Hochzeitsfotos auf dieser Treppe, vor diesem Relief? Das ist unglaublich“, sagt Mnyaka Sururu Mboro.
U-Bahnhof Mohrenstraße Der Streit um den richtigen Umgang mit kolonialistischen Denkmälern im öffentlichen Raum und Straßennamen ist noch lange nicht zu Ende. Das zeigten zuletzt die emotionalen Reaktionen auf die angekündigte Umbenennung des U-Bahnhofs Mohrenstraße.
Relief am Ermelerhaus Es werden auch immer wieder neue Relikte entdeckt, die als diskriminierend empfunden werden, so zum Beispiel das Relief über dem Eingang des Ermelerhauses.
Der Verein Berlin Postkolonial leistet Aufklärungsarbeit und bietet ab August wieder regelmäßig Gruppenführungen für Interessierte an. Terminanfragen können an buero@berlin-postkolonial.de gerichtet werden. (ask)
In der Tat: Das Luxushotel der Kette „art’otel“, das sich heute in dem Gebäude befindet, ist ein Veranstaltungsort für private Feiern und ein Treffpunkt für die gehobene Gesellschaft, die durch die Eingangstür mit dem diskriminierenden Relief darüber ein- und ausgeht. „Es ist erschreckend, wie wenig die Menschen über Deutschlands Kolonialgeschichte wissen“, sagt auch Kopp. Und er sagt es nicht in einem vorwurfsvollen Ton; er sagt es mit ehrlicher Betroffenheit und auch mit einem gewissem Verdruss, der wohl nicht zu vermeiden ist, wenn man schon so lange für eine Sache kämpft.
Mboro und Kopp organisieren bereits seit 15 Jahren Führungen wie die heutige, bei denen sich Interessierte auf den Spuren nach kolonialrassistischen Relikten im öffentlichen Raum Berlins begeben. Dabei entdecken sie immer wieder neue historische Bezüge zur Kolonialzeit, wie zuletzt eben beim Ermelerhaus.
Direkter Bezug zu Berlin
Dass die unternehmerische Erfolgsgeschichte des Industriellen Ermeler einer kritischen Betrachtung würdig ist, zeigt das Relief über dem Hauseingang: Es veranschaulicht die Verstrickungen Ermelers in die kolonialistische Ausbeutung und Versklavung der Bevölkerung Afrikas und Südamerikas. Bemerkenswert ist an der Darstellung der direkte Bezug zu Berlin: Die beiden Türme am Rande des Reliefs sollen den Deutschen und Französischen Dom am Gendarmenmarkt abbilden. Selten findet sich die Verwicklung der Stadt in den transatlantischen Sklavenhandel so deutlich dargestellt.
Das Relief gibt aber auch Aufschluss über die damalige Wahrnehmung der Kolonialpolitik in der Gesellschaft. Die tropischen Palmen, muskulöse schwarze Männer, der verträumte Blick der Händler und Plantagenbesitzer in die Ferne – das Relief bedient die damals gängigen Wunschvorstellungen einer exotischen Kolonialidylle und beschönigt die dramatische Realität: „Die Arbeit auf den Kaffee-, Kakao- oder Tabakplantagen war körperlich wahnsinnig zehrend“, erläutert Kopp. „Die Sklaven haben meist nicht länger als einige Jahre überlebt, ehe sie an Erschöpfung starben.“
Welchen Umgang würde sich Mboro mit dem Relief wünschen? Sollte man es abschlagen? „Nein, das fände ich falsch“, sagt er entschieden. „Es muss aber eine kritische Einordnung dieser vermeintlichen Idylle erfolgen.“ Eine kleine Erinnerungstafel allein sei zwar ein Anfang, aber leider würden viele Menschen an diesen Tafeln einfach vorbeilaufen.“ Er und Kopp haben bereits überlegt, ob eine Plexiglasscheibe mit einer Gegendarstellung der abgebildeten Geschichte über dem Relief anzubringen möglich wäre – „etwas, das den Blick bricht“.
Umschlagplatz im Sklavenhandel
Läuft man etwa 500 Meter weiter vom Ermelerhaus den Spreekanal entlang, gelangt man zum nächsten Halt der Führung: Die Friedrichsgracht, der Uferabschnitt zwischen Gertraudenstraße und Sperlingsgasse, ist nur etwa 200 Meter lang. Die Straße erinnert an den damaligen brandenburgischen Kurfürsten Herzog Friedrich Wilhelm (1620–88), der seinerzeit den Spreearm kanalisieren ließ. Er war auch derjenige Herrscher, der den geopolitischen Einfluss Preußens im transatlantischen „Dreieckshandel“ zwischen Afrika, Europa und Mittelamerika auszuweiten suchte.
Dafür entsandte Friedrich Wilhelm den Major Otto Friedrich von der Groeben, der Groß Friedrichsburg, das im heutigen Princetown in Ghana liegt, im Jahr 1683 gründete. Der Handel mit Kolonialwaren rückte als einträgliches Geschäft damals in ganz Europa in den Fokus der Wirtschaftsinteressen von Adelshäusern und Kaufleuten – und damit verbunden der Handel mit versklavten Menschen.
Groß Friedrichsburg wurde daher schnell zu einem wichtigen Umschlagplatz in diesem internationalen Geschäft. Es wurden von dort aus nachweislich innerhalb von 30 Jahren etwa 20.000 Sklaven zur Zwangsarbeit in die Karibik und nach Mittelamerika verschifft, „die Dunkelziffer dürfte durch den illegalen Handel noch höher liegen“, so Kopp. Das Repräsentationsbedürfnis Friedrich Wilhelms und seines Sohnes Kurfürst Friedrich III., ab 1701 König Friedrich I. in Preußen, tritt jedoch auch am Hof selbst zutage: So beorderte er schwarze, meist minderjährige Jungen nach Preußen, um Geltung und Prestige des Hauses durch deren vermeintlich „exotisches“ Äußerliches zu unterstreichen.
Es ist Mboro und Kopp unverständlich, warum man mit der Friedrichsgracht dem damaligen Kurfürsten die Ehre eine Straßenbenennung erweist. Groß Friedrichsburg war so etwas wie „ein Lager für versklavte Menschen, in dem sie vor ihrem Weitertransport unter unwürdigsten Bedingungen gefangen gehalten wurden“, erklärt Mboro.
In der Mitte der Gesellschaft
Bevor die Teilnehmer:innen sich für den letzten Halt der Führung im Institut für europäische Ethnologie in der Mohrenstraße einfinden, wird kurz im U-Bahnhof Hausvogteiplatz gestoppt. Kopp weist auf ein Bild über den Gleisen hin, auf dem ein fürstliches Palais an der Ecke Wilhelm-/Mohrenstraße zu sehen ist. Den Eingang flankieren zwei schwarze Diener-Statuen, die Palmenwedel halten – auch dies Ausdruck des Repräsentationsbedürfnisses politischer Entscheidungsträger.
Etwas später, im Foyer des Ethnologischen Instituts, reicht Kopp laminierte Bilder herum, die inhaltlich an das Bild im U-Bahnhof anschließen: Es sind Szenen am königlichen Hof, in denen sich schwarze Kinder, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, in dienender Gebärde vor der feinen Gesellschaft verneigen, dabei exotisierende bunte Kleidung oder einen Papageien auf der Schulter tragen.
Doch der Kolonialismus hat auch zwei Jahrhunderte später noch einen Platz in der Mitte der Gesellschaft. So gab es bis Mitte der 1910er das „Deutsche Kolonialhaus“ in der Lützowstraße, in dem schwarze Menschen – auch Kinder – in stereotyper Kleidung beschäftigt wurden, um gemeinsam mit den entsprechenden Produkten auch das romantisierte Weltbild einer Kolonialherrschaft zu verkaufen, in der schwarze Menschen wie selbstverständlich untertan sind.
Das vorherrschende rassistische Weltbild offenbart sich auch in einer weiteren von Kopp präsentierten Abbildung: Darauf zu sehen ist eine Zeichnung eines schwarzen französischen Kriegsgefangenen aus dem Jahr 1914. Die Bildunterschrift lautet: „Ein gefangener Senegalschütze vor dem Abtransport zum Berliner Zoo.“
Erzählungen bekommen persönliche Dimension
Die Verlegenheit der Zuhörer:innen ist am Ende der zweistündigen Führung deutlich spürbar. Das komplexe Thema der deutschen Kolonialgeschichte ist an diesem Tag klarer, sein Fortwirken in Form von rassistischen Stereotypen bis in die Gegenwart greifbarer geworden. Mit den bewegenden Anekdoten von Mnyaka Sururu Mboro haben die Erzählungen eine persönliche Dimension bekommen, die man sonst wohl nur selten im Zusammenhang mit so konkreten, historisch sachlichen Schilderungen erlebt.
Zu hoffen bleibt, dass sich die heutigen Eindrücke nachhaltig in das Verantwortungsbewusstsein einschreiben, sich der kolonialgeschichtlichen Aufarbeitung nicht länger zu verweigern, ja, sie aktiv zu fördern. Als erster Versuch sei Interessierten das alljährliche „Umbenennungsfest“ in der Mohrenstraße am 23. August nahegelegt. Hier treffen Nachbarschaftsinitiativen und Vereine des Bündnisses Decolonize Berlin, darunter auch Berlin Postkolonial, zusammen und fordern, den rassistischen Straßennamen durch Anton-Wilhelm-Amo-Straße, nach dem ersten schwarzen Gelehrten in Deutschland, zu ersetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau