Fuck Andy. Fuck Nico. Fuck Cale: Ein Leben mit Lou Reed
Der große New Yorker Sänger, Gitarrist und Mitbegründer der Band Velvet Underground lebte stets am Abgrund – und begeisterte eine ganze Generation.
MÜNCHEN taz | In der amerikanischen TV-Serie „Boardwalk Empire“, einer etwas hölzernen Kostümorgie über Alkoholschmuggel und Glücksspiel, brüllt der stets paranoide und schlecht gelaunte Mafiakiller Gyp Rosetti seinen Begleiter an: „Nichts Persönliches! Was soll das heißen? Wie kann etwas ’nicht persönlich‘ gemeint sein, wo wir doch alle Personen sind?“
Dass Gyp Rosetti von dem kleiderschrankgroßen Bobby Cannavale gespielt wird, ändert nichts daran, dass er in diesem Moment die Inkarnation eines eher schmächtigen Giftzwergs aus Brooklyn sein könnte, der aus jüdischem Elternhaus stammt, Lou Reed heißt und am Sonntagmorgen – wann sonst? – mit 71 Jahren am Leben und dem ganzen Rest verstorben ist.
Journalistenkollegen, die es gewagt haben, den innersten Kreis seines Zornes zu betreten, werden den Vergleich mit der Mafiabestie verstehen; mir ist dies Gott sei Dank erspart geblieben, aber wenn man sich ein halbes Menschenleben lang (Scheiße, mehr!) von der Stimme dieses Kerls auf der Bühne oder von seinen Platten hat annörgeln lassen, anblaffen, ankotzen, belehren und beschimpfen, aber auch liebkosen, streicheln, dann ist das Verhältnis zu Lou Reed doch durchaus persönlich geprägt, hat sich ein Teil seiner Übellaunigkeit, seiner Sentimentalität, seiner narrativen Kraft und seines nihilistischen Furors an den eigenen Synapsen angelagert wie alte Plastiktüten, die der Wind von der städtischen Müllkippe hereingeweht hat und jetzt an irgendeinem Bauzaun vergammeln.
, Jahrgang 1956, hat Lou Reed in seinem Buch „Soundcheck“ als Arschloch bezeichnet und musste dies seinem 5-jährigen Sohn erst mal erklären.
Wortfetzen. Gesichtsausdrücke. Riffs. Augenblicke. Ein sehr junger Mann, der ich damals war, sitzt auf dem Rücksitz eines alten Ford, den Kopf nach hinten, Richtung Westen gedreht, blickt in die untergehende Sonne, auf ein langes Band rot überfluteter Autobahn. Im Radio läuft „New Age“ von Velvet Underground – doch, so was lief mal im Radio –, und dass hier eine neue Zeit heraufdämmert, ist ein Versprechen an den jungen Mann, auch wenn er viel später feststellen muss, dass gar nicht Lou Reed diese Zeilen singt, sondern einer seiner von ihm immer wieder eingesetzten Interpreten – Antony, Little Jimmy Scott, hier: Doug Yule.
Als Lou Reed Velvet Underground 1969 verlässt, geht er auf die 30 zu. Er hat ein Leben auf der Überholspur hinter sich, Elektroschocks wohlmeinender Ärzte wegen jugendlicher Aufsässigkeit, eine Zeit als Lohnschreiber für Musikverlage, ein wenig Tanzmucke, dann eine wüste Phase der Kollaboration mit dem walisischen Querkopf John Cale in der Band Velvet Underground, solipsistisches Heroin und Amphetamine statt des weltumarmenden LSD sind die Drogen der Wahlverwandten, die in Andy Warhols Factory aneinandergeraten – alles, um dem silbernen Meister Warhol zu gefallen. Aber nicht lange! Nicht mit Lou! Fuck Andy. Fuck Nico. Fuck Cale.
Stille und Höllenlärm sind eins
Dann ein großer Rock-’n’-Roll-Moment: die Band im Studio; es ist noch ein wenig Zeit, und es gilt: Jeder so laut er kann. Alle Anzeigen im roten Bereich: Gitarre gegen Bratsche gegen Gitarre.
Es ist wieder Abend, wieder Sonnenuntergang, wieder sitzt unser junger Mann im Auto, diesmal einem alten Käfer. Velvet Undergrounds Song „Sister Ray“ ballert aus den billigen 8-Watt-Boxen, 17 Minuten Splatterfeedback. Da hüpft wie in Zeitlupe ein Hinterreifen links am Wagen vorbei und kommt auf dem Mittelstreifen der Autobahn zum Liegen. Die Hinterachse kreischt über den Asphalt. Funken fliegen. Apocalypse now. In einer Mischung aus Schock und Cool zieht der junge Mann das Auto auf die Standspur, stellt die Zündung ab. Der Kassettenrekorder plärrt weiter. Stille und Höllenlärm sind eins. Noch mal davongekommen. Nothing personal.
Lou ist jetzt solo. Lou ist jetzt im Orbit seines Verehrers David Bowie. Transatlantisches Feedback. Lou ist jetzt in Berlin. Lou ist jetzt fast ein Star.
Viele Jahre später, unser junger Mann sitzt in einer Maschine in die USA. Im Bordheft sind die Audiokanäle aufgelistet; eine Kategorie heißt: One Hit Wonder. Mit dabei „Walk On the Wild Side“ von Lou Reed. Denn nach dem Hit auf dem Album „Transformer“ (1972) bringt er ein Doppelalbum mit Rückkopplungsgedröhn heraus, das sehr richtig „Metal Machine Music“ heißt und eigentlich nur darauf verweist, dass tief im Kern der Popmusik, im „Rock ’n’ Roll Heart“ also, ausschließlich ein schrilles Störgeräusch lebt. Versteht damals natürlich keiner. Hätte man vielleicht auch nicht auf 68 Minuten darlegen müssen. Hätte die Welt vielleicht auch nach 68 Sekunden verstanden.
Egal. Karriere vorbei, bevor sie so richtig begann. Lou lässt sich die Haare kurz scheren, trägt ein Hundehalsband, prügelt sich mit GIs in hessischen Sporthallen und nimmt Doppel-Live-Alben in Kunstkopfstereofonie auf, auf denen er in epischer Länge Juden, Schwarze, Frauen und seine Band beleidigt. Nichts Persönliches, natürlich. Der junge Mann lernt in jener Zeit von ihm, dass man Nouvelle-Vague-Filme, Ballett und Oper blöd finden darf. Es gibt ein schlecht gelauntes Leben im lustigen, obwohl sich immer ein Robbie Williams finden wird, der zwischen zwei Depressionen singt: „Let Me Entertain You.“ Aber nicht Lou. Nicht mit ihm. Nicht mit mir.
Elder Statesman des Punk
Der britische Produzent und Musiker Brian Eno hat recht, wenn er sagt, dass jeder der 30.000 Käufer des Velvet-Debütalbums losgezogen ist und eine eigene Band gegründet hat. Die achtziger Jahre sind Lous Jahrzehnt. Er hat sie schon 1968 durchlebt, doch jetzt sind wir anderen und der Kalender auch so weit. Der nicht mehr ganz so junge Mann sitzt im Kino. Neben ihm zwei junge Typen: „Du, ich hab eine wahnsinnige Platte gefunden, Velvet Underground. Mein Vater hat die irgendwie. Kennst du die?“
Der nicht mehr ganz so junge Mann zuckt zusammen. Nothing personal, natürlich. Aber, Kinder, wie die Zeit vergeht. Lou ist jetzt der Elder Statesman des Punk, der Turmschreiber der einzigen Stadt auf diesem gottlosen Erdboden, die er gelten lassen kann; New York ist sich sein größtes Gedicht. Und er schreibt die Musik dazu. Es entstehen ein paar Alben von klassischer Eleganz. Auf einem steht: „Nichts geht über zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug.“
Wenn er diesen Satz zu Ende gelesen hat, muss der junge Mann in mittlerem Alter zugeben, dass Rockmusik nun klassische Statur angenommen hat. Das sie streng riecht und ein Bäuchlein bekommt. Dass ihr irgendwann auch ein Lou Reed nicht mehr recht in den Sattel helfen kann. Boom Boing Tschak. Lou wandelt sich, achtet mehr auf die Gesundheit, macht Sport und Tai Chi, hat also Angst, lebt mit Laurie Anderson zusammen, kann also doch lieben, und unterstützt Bürgerrechtsbewegungen und Anti-Atom-Organisationen.
Selbst Unsterbliche müssen sterben
Nichts mehr von wegen „Give me an issue and then give me a tissue to wipe my ass with“ oder so ähnlich. Das Rock-’n’-Roll-Tier reift, wird sogar überreif. Wird Dichter. Bastelt selbst an der großen Erzählung namens Amerika mit herum. Wird gern gesehener Gast von Staatsmännern. Wird vielleicht sogar Unicef-Botschafter. Das dann doch nicht.
Er streicht um das Werk eines Edgar Allan Poe herum – der Freejazzer Ornette Coleman bläst das Saxofon, Steve Buscemi, der Hauptdarsteller von der eingangs erwähnten TV-Serie „Boardwalk Empire“, rezitiert Texte – und er lässt die Metalband Metallica auf sein letztes Album, „Lulu“ (2011), los, palim palim, und gerade als er auch noch aussieht wie Didi Hallervorden, kommt der Tod um die Ecke und sagt: „Dich muss ich wohl vor 40 Jahren vergessen haben, sorry, Lou.“
Und der Mann, der dies schreibt, trauert mit jeder Faser seines nicht mehr jungen Körpers, weil selbst Unsterbliche sterben müssen, was dann doch sehr persönlich ist, und weil die Welt mit dem Fehlen eines Herzschlags ein ärmerer Ort geworden ist, an dem der dialektische Dämon fehlt, der aus Feuer und Blut und Schwefelgestank einen Menschen erschaffen konnte. Oder: etwas Menschliches. Etwas mit Persönlichkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass