Früherer ASD-Mitarbeiter über Chantals Tod: "Wir sind nur noch Aufpasser"
Die Politik reduziert Jugendämter auf ihre Kontrollfunktion, kritisiert der frühere Mitarbeiter Peter Meyer. Die Menschen müssten wieder gern dort hingehen, dann könne man ihnen auch helfen.
taz: Herr Meyer, es gab kein eigenes Bett für Chantal. Und doch haben die Mitarbeiter des Jugendamtes Wilhelmsburg keine Hinweise auf Kindeswohlgefährdung in der Wohnung der Pflegeeltern bemerkt. Sie waren 18 Jahre beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) in Hamburg Steilshoop tätig. Sind solche Zustände normal?
Peter Meyer: Nein. Der Fall macht mich sprachlos. Den Jugendamts-Kollegen hätte auch an den äußeren Umständen auffallen müssen, dass die Pflegeeltern Süchtige waren.
Es gab 2008 beim ASD-Wilhelmsburg eine kollektive Überlastungsanzeige. Der Senat sagte daraufhin, es sollten nur die wichtigen Fälle bearbeitet werden. Gehörte das Finden einer Pflegestelle für ein Kind wie Chantal nicht dazu?
Mir wäre es lieb, wenn es wieder dazugehören würde. Aber vor acht Jahren wurde die Pflegekinderbetreuung als Aufgabe vom ASD ausgelagert. Die Pflegeelternberatung übernahmen freie Träger und die Koordination gesonderte Stellen in den Bezirken. Der ASD ist zwar weiter für das Kind verantwortlich, verliert durch diese Struktur aber den wichtigen Kontakt zu den Akteuren im Sozialraum.
arbeitete von 1974 bis 2009 als Sozialarbeiter, davon 18 Jahre beim ASD-Steilshoop in Hamburg. Bis heute ist er in der Ver.di Fachgruppe ASD aktiv.
Jetzt werden in Hamburg die Akten aller 1.300 Pflegeeltern auf Hinweise nach Sucht überprüft. Sinnvoll?
Ich halte das für ausgesprochen problematisch. Es erschwert die Arbeit des ASD. Wir sind nur noch für Kindeswohlgefährdung und die Bewilligung von Erziehungshilfen zuständig. Auch die Trennungsberatung wurde uns weggenommen. Es gibt nichts mehr, weswegen die Menschen gern zu uns kommen. Das drängt den ASD in die Rolle einer generellen Armutspolizei.
Aber muss die Behörde nicht wissen, ob Pflegeeltern Junkies sind?
Dafür muss man Menschen sehen, mit ihnen ins Gespräch kommen. So wie unsere Arbeit verändert wurde, ist das kaum noch möglich. Und wenn Mitarbeiter jetzt Akten bearbeiten, fehlt ihnen die Zeit für den nächsten wichtigen Fall. Die Politik reagiert auf Stammtisch-Niveau.
Chantal wurde versehentlich wie ein verwandtes Kind behandelt. Jetzt soll die Verwandtenpflege in Hamburg genauso streng kontrolliert werden wie die fremder Kinder. Auch ein Fehler?
Ich habe die Sorge, dass wir künftig noch weniger bereite Eltern finden. Pflegestellen, auch die Verwandtenpflege, sind schützenswerte Orte. Es gelingt so oft, für Kinder gute Lösungen zu finden. Die Politik geht sehr aktionistisch vor. Nach jedem toten Kind werden Strukturen verändert, die es für uns schwerer machen, unsere Arbeit zu tun. Wir sind nur noch die Aufpasser. Es muss wieder andere Gründe geben, zu uns zu kommen.
Wie sollte die Politik reagieren?
Sie sollte ganz konkret schauen, wie der ASD in Wilhelmsburg gestärkt wird. Man muss sich vorstellen, die Bevölkerung hat gerade einen Schweigemarsch gegen den ASD gemacht. Die Mitarbeiter sind in einer schwierigen Lage. Vier Stellen sind unbesetzt. Es ist ein belasteter Stadtteil, in dem es nicht attraktiv ist, zu arbeiten. Die Zeiten sind vorbei, wo Sozialarbeiter sich sagten, ich bin Idealist und gehe trotzdem hin. Zumal ich mit Regeln kämpfen muss, die nicht meine sind.
Also mehr Personal?
Eindeutig ja. Ein Mitarbeiter sollte nicht mehr als 27 Fälle im Monat haben.
Hamburg will die Schuldenbremse 2020 einhalten und sparen. Die Kosten für Erziehungshilfen sollen im Schnitt nur 0,88 Prozent pro Jahr steigen. Realistisch?
Ich habe da Zweifel. Hamburg will sozialräumliche Angebote stärken, das ist gut. Es führt aber nicht automatisch zur erhofften Kostenersparnis.
Warum steigen die Kosten für Erziehungshilfen seit Jahren?
Weil es mehr Menschen unter Armutsbedingungen gibt, die den Ansprüchen für ihre Kinder nicht gewachsen sind und sich Konflikte so zuspitzen, dass diese besser nicht zu Hause leben. Aber damit diese Hilfen zum Erfolg führen, müssen sie auch gewollt sein. Der ASD muss gut vernetzt sein und dafür sorgen, dass Hilfen zu einer besseren Chance führen. Das ist die Aufgabe der Jugendämter.
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