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Frühere Chefredakteurin zu „Charlie Hebdo“„Kein Prozess der Heilung“

Nach dem „Charlie Hebdo“-Anschlag trauerten Millionen Franzosen. Nun beginnt der Prozess. Von Einheit sei man weit weg, sagt die frühere Chefin der deutschen Ausgabe.

Nach den Anschlägen auf die Redaktion gingen in Paris 1,5 Millionen Menschen auf die Straße Foto: Peter Dejong/AP
Interview von Barbara Oertel

taz: Frau Straßenburg, am 11. Januar 2015 gingen in Paris 1,5 Millionen Menschen gegen islamistischen Terror auf die Straße, in ganz Frankreich waren es 3,7 Millionen. Alle waren „Charlie“. Was ist davon geblieben?

Romy Straßenburg: Wer an diesem „Marsch der Republik“ teilgenommen hat, erinnert sich sehr gut an die heilende Wirkung dieses Tages, an das Gefühl, der Angst und Ohnmacht etwas entgegensetzen zu können. Allerdings waren die Meinungen schon damals differenzierter, als es im Ausland wahrgenommen wurde. Charlie Hebdo hatte eine kleine Leserschaft, der Humor war nie massenkompatibel. Trotzdem stand der Name plötzlich für nationale Einheit, für Solidarität. Das war jedoch nur eine Momentaufnahme, es fand kein Prozess der Einigung oder Heilung statt. Im Gegenteil: Der Front National war weiter stark, Präsident Macron vertiefte nach seiner Wahl die sozialen Gräben durch neoliberale Politik, und die Polizeigewalt nahm zu.

Warum ist so wenig vom Anfangsgefühl geblieben?

Weil das Jahr 2015 mit seinen großen Fragen zu Identität, Religion und Terror abgelöst wurde von neuen Fragen, die neue Brüche innerhalb der Gesellschaft aufgezeigt haben. 2015 sprachen wir von abgehängten jungen Muslimen in den Vorstädten, die sich radikalisieren und zu Terroristen werden. Seit Macron sprechen wir wieder mehr von einer weißen, französischen Unterschicht in den urbanen Randzonen, die keine Zukunftsperspektive mehr sieht und auch vor Gewalt nicht zurückschreckt. Daher ist Frankreich von einer sozialen Einheit oder Befriedung wohl noch weiter entfernt als 2015.

Hat sich die Debatte Laizismus versus Religion in Frankreich verändert?

Die Anschläge auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt stellten ja nicht nur den schmerzhaften Auftakt einer ganzen Reihe von islamistisch motivierten Verbrechen dar. Sie haben vor allem gezeigt, dass die französische Gesellschaft nicht ausreichend Integrationskraft besitzt, um junge Franzosen vor religiöser Radikalisierung zu schützen und dass das zu einer großen Gefahr werden kann. Das hat den Laizismus ganz entscheidend infrage gestellt. Wenn durch das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat alles Religiöse in den Privatbereich verlagert wird, entzieht sich dieses Feld auch jeder Kontrolle. Für Verteidiger des laizistischen Prinzips waren die Taten aber genau der Beweis, dass man nur durch republikanische Werte und Institutionen der Radikalisierung entgegenwirken kann. Im Prinzip haben sich auf beiden Seiten die Positionen verfestigt. Den Laizismus sehen die einen als ein Bollwerk, die anderen als ein überbordendes, sogar gefährliches Prinzip.

Wie wird heute über Pressefreiheit diskutiert? Schließlich gab es nicht wenige, die „Charlie Hebdo“eine Mitschuld an den Ereignissen gegeben haben …

Pressefreiheit ist immer wieder ein Thema, klar. Aber auch hier gibt es keine einhellige Meinung, denn allein das persönliche Level des Zumutbaren ist ganz unterschiedlich, auch in Humorfragen. Mich hat immer gestört, dass viele Charlie gleichgesetzt haben mit französischem Humor, dabei lachen keineswegs alle Franzosen über die Charlie-Karikaturen. Sicher ist jedoch, dass seit den Anschlägen immer eine besondere Sensibilität mitschwingt und die Frage, wie blasphemisch man noch sein kann, wenn man sich damit einer Gefahr aussetzt.

Für wie real halten Sie die Bedrohung durch den radikalen Islamismus für Frankreich heutzutage? Welche Rolle spielen Frauen hierbei?

Im Interview: Romy Straßenburg

Jg. 83, lebt in Paris. Sie war Chefredakteurin der deutschen „Charlie Hebdo“-Ausgabe und lehrt an einer Pariser Journalistenschule.

Ich glaube, es gibt eine Gefahr, wenngleich die Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren versucht haben, die komplette Szene zu durchleuchten und Unterstützernetzwerke zu durchbrechen. Der Prozess wird zeigen, dass für die Logistik der Charlie-Attentate viele Personen nötig waren, wie auch für die Anschlagsserien am 13. November 2015. Ich hoffe, dass solch eine Planung heute früher ans Licht käme. Und, ja, Recherchen zeigen, dass Frauen künftig häufiger terroristische Missionen bekommen könnten, weil sie weniger im Blickfeld der Sicherheitsbehörden stehen.

Obwohl die Wunden noch immer tief sind, scheint das Interesse an dem Prozess gering zu sein …

Es mangelt nicht an Interesse. Es gibt nur viele Menschen, die wegen Corona andere Sorgen und nicht Zeit und Energie haben, sich mit den Ereignissen von vor fünf Jahren zu beschäftigen.

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10 Kommentare

 / 
  • RS
    Ria Sauter

    Danke für dieses Interview!



    Sehr kluge Einschätzung der Situation, nicht nur der in Frankreich.



    Es sind viele junge Männer gekommen,mit Wünschen und Träumen, die sich nicht erfüllen werden,nicht erfüllen können.



    Das hat nichts mit fehlender Fürsorge zu tun?



    Wo soll die Arbeit herkommen?Die Wohnung?Das Geld für den ersehnten "Luxus"?



    Da hilft es nicht mal kurz Sprachkurse anzubieten oder Schoko zu verschenken.



    Das ist ein grosses Problem,überall.

  • 'Schließlich gab es nicht wenige, die „Charlie Hebdo“ eine Mitschuld an den Ereignissen gegeben haben …'

    Frau Oertel, halten wir inne:

    'Sich-Beleidigt-Fühlen' heißt nicht, Recht zu haben.

    Kritik, auch Karikatur, einer religiösen Lehre ist legitim, und sie sollte klar unterschieden werden, von einer Beleidigung von (einzelnen) Gläubigen - diese letztere sollten wir unterlassen. Texte sind eher nicht leidens- und beleidigungsfähig.

    Die offene Gesellschaft lebt von Kritik, und es darf an keiner Stelle begonnen werden, dies zu relativieren. Das wäre ein Rückschritt in eine glücklicherweise überwundene Vergangenheit.

    Wenn einzelne Gläubige sich dennoch beleidigt fühlen durch Kritik an ihrer Ideologie, durch blasphemische Karikaturen, so ist ihnen anzuraten, ihre Erwartungen, ihr Denken und Fühlen upzudaten auf den Normalzustand der offenen modernen Gesellschaft. Die tut manchmal weh, notwendigerweise, v.a. wenn man selbst Gegenstand der Kritik ist.

    Ich empfehle das mitreißende Plädoyer Jonathan Rauchs für maximale Meinungsfreiheit: 'Kindly inquisitors. The New Attacks on Free Thought.

    „Society benefits from the toleration of hate speech, and so do targeted minorities“ (S.169).



    „Die Gesellschaft profitiert von der Tolerierung von ‚hate speech‘, angegriffene Minderheiten ebenso.“

    Das klingt im ersten Moment provokativ, aber er weiß es überzeugend zu begründen! Ein großartiges Buch!

    • @Weber:

      "„Die Gesellschaft profitiert von der Tolerierung von ‚hate speech‘, angegriffene Minderheiten ebenso.“"

      wie sehr die gesellschaft und angegriffene minderheiten "von der Tolerierung von "hate speech" " im namen von "maximaler Meinungsfreiheit" profitieren kann man am beispiel einer grossen offenen freien westlichen und modernen gesellschaft auf der anderen seite des atlantischen ozeans sehen-die auf diesem weg in einem für ein soziales experiment hinreichend langen beobachtungszeitraum weder ihren strukturellen rassismus noch ihre fast täglich mörderische und regelmässig massenmörderische rassistische gewalt zu überwinden vermochte.

      Ich werde immer sehr mistrauisch wenn von der maximierung von freiheit die rede ist.die maximale freiheit zur profitmaximierung richtet normalerweise den grössten ökologischen und sozialen schaden an .im hinblick auf die maximale meinungsfreiheit räume Ich zwar ein dass sie nicht so quasideterministisch und nahezuzwangsläufig zum grösstmöglichen übel und unheil führt wie die maximale wirtschaftliche freiheit im kapitalismus und dass sie ohne die auch fast maximale freiheit schusswaffen zu besitzen sicher nicht so tödlich wäre -aber Ich vertraue letzlich ebensowenig auf die selbstregulierungskräfte eines freien meinungsmarktes wie auf die selbstregulierungskräfte einer freien marktwirtschaft.

      als die könige frankreichs im zeitalter der religionskriege den religionsfrieden wiederherstellen wollten und wiederhergestellt haben taten sie dies auf dem weg der zensur.,der die scharfmacher und hetzer auf beiden seiten unterworfen wurden



      wir leben heute nicht mehr im zeitalter des absolutismus -aber an der notwendigkeit der zensur .kommt auch eine demokratische gesellschaft der frieden und sicherheit für alle menschen wichtiger sind als als die maximierung individueller freiheiten nicht vorbei.



      die sozialen netzwerke bedürfen einer demokratischen und am besten einer direktdemokratischen selbstkontrolle

  • die trennung von religion und politik erfordert keineswegs dass der spott über den glauben anderer im öffentlichen raum so frei sein muss.wie dies bürgerliche individualist*innen wollen.freiheit eignet sich nicht als oberster wert für eine humane gesellschaft.das gilt auch für die meinungsfreiheit.der gebrauch den charlie hebdo von dieser gemacht hat ist zu tadeln-weil es sich um einen missbrauch handelte .mehr als eine milliarde friedlicher muslime wurden unnötigerweise in ihren religiösen gefühlen verletzt und verblendete religiöse fanatiker*innen -deren propaganda der staat übrigends rigoros unterdrücken sollte unnötigerweise provoziert.dies geschah in islamophober rechtspopulistischer absicht.



    zwar muss der rechtstaat auch unverantwortliche spötter*innen die die meingungsfreiheit missbrauchen um den religionsfrieden zu stören vor gewalt schützen,aber dessen repräsentant*innen sollten auch deutlich machen dass der öffentliche spott über religion ihrerseits unerwünscht ist

    • @satgurupseudologos:

      Da muss ich entgegnen: Religionen müssen allein schon wegen ihres öffentlichen Machtanspruches auch öffentlich verspottet werden.

      • @Albrecht von Aschenfels:

        der historische Buddha ist nie zu einem könig gegangen.um ihn für seine zwecke zu benutzen.er liess die könige wie andere laien zu sich kommen.nur einmal ist er einem könig wortlos entgegengegangen und zwar als dieser auf dem weg in den krieg war .mehr als einen aufschub des krieges hat er damit aber nicht bewirken können



        im der satzung seines ordens gibt es viele regeln deren zweck die trennung von religion und politik und die unabhängigkeit der ersteren von der letzteren ist -denn der Buddha wusste dass ihre vermischung beide verdirbt.



        leider haben sich spätere generationen seiner schüler*innen nicht an diese guten und vernünftigen regeln gehalten



        im christentum war das nicht anderes.Jesus hat klar und deutlich gesagt dass sein reich nicht von dieser welt sei-aber später gab es sogenannte christliche kaiser*innen und könig*innen die natürlich genauso unchristlich gehandelt und gedacht haben wie nichtchristliche kaiser*innen und könig*innen und heute gibt es politische parteien die beanspruchen christlich-demokratisch oder christlich-sozial zu sein-aber gemessen an dem was der gründer der christlichen religion lehrte garantiert nicht christlich sind sondern etiquettenschwindel betreiben .



        für den christlichen glauben ist das nicht gut.in frankreich wo staat und kirche getrennt sind habe Ich mehr authentische christ*innen getroffen als in deutschland-dass auch diesbezüglich zu wenig aus seiner geschichte gelernt hat

        auch damit die religion nicht den spott abbekommt den die politik oder politiker*innen verdient haben mögen ist es wichtig dass beide getrennt schiedlich-friedlich koexistieren.



        das ist auch für die gleichberechtigung der verschiedenen religionen am besten

        da Ich ein paar jahre erfahrung mit deutschen schulen habe kann und muss Ich leider auch bestätigen dass staatlicher religionsunterricht auf eine verfälschung der religion im dienst des staates hinausläuft.

        • @satgurupseudologos:

          Ich kann in ihrem Text nur schwerlich Gegenargumente zu meinem vorherigen Beitrag finden.

          Auch die (historischen wie theologischen) Personen Buddha und Jesus formulieren klare offene Machtansprüche, daran ändert auch nichts, dass sich die Politik der Religion bedient (hat).

    • @satgurupseudologos:

      Wer überhaupt in seinen religiösen Gefühlen verletzt werden kann, ist Fundamentalist. Angefressen sein: Sicher. Aber wer sowas persönlich nimmt, soweit sogar, dass er zu Ausschreitungen und Anschlägen getrieben wird oder diese gutheißt, der ist kein Opfer, sondern Verursacher des Problems.

      • @sart:

        nur sehr wenige menschen sind so weise dass sie in ihren gefühlen durch beleidigungen kränkungen schmähungen verleumdungen und spott nicht verletzt werden können



        diese stoische weisheit erreichen nur wenige -das gilt sowohl für religiöse als auch für nicht religiöse menschen

        Ihre definition des religiösen fundamentalismus ist daher falsch.als religiöse fundamentalist*innen sollte man nur personen bezeichnen die der vernunft nicht ihr recht in dieser welt zugestehen wollen .wahre frömmigkeit ist nicht vernunftfeindlich und also auch nicht fundamentalistisch.auch der islam fordert wie jede andere religion zum gebrauch der vernunft auf .



        die vernunft ist für die gläubigen eine gabe des schöpfers



        es ist eine moralische pflicht sich ihrer würdig zu erweisen



        und von ihr einen guten gebrauch zu machen



        religiöse gefühle sollte man wie alle anderen menschlichen gefühle nicht verletzen



        auch das ist eine lehre der vernunft.

      • RS
        Ria Sauter
        @sart:

        Stimme Ihnen zu!Genau auf den Punkt gebracht,danke!