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Früher habe ich gehungert, gebettelt und geklaut...

■ Sechs Monate nach der Eröffnung ihres Ladens zum kostenlosen Einkauf zieht der Verein Bremer Tafel Zwischenbilanz

„Früher habe ich, gehungert, gebettelt und geklaut“, sagt Thorsten (28). Gestern mittag wartete der Bremer vor dem Lebensmittel-Freeshop in der Friesenstraße 47, um rechtzeitig Obst, Gemüse und Brötchen zu bekommen. Der Laden verköstigt auf Initiative des Vereins Bremer Tafel kostenlos Obdachlose. Alle Waren sind kostenlos: Sie stammen aus Supermärkten, von Großmarkthändlern und Bäckereien und wären dort vergammelt. Auch eine Fast-Food-Kette spendet ihre nichtverkauften Speisen.

Gestern zogen die Betreiber des Freeshops, sechs Monate nach dessen Eröffnung, Zwischenbilanz. „Der Laden läuft recht gut“, freute sich der Vereinsvorsitzende Oskar Splettstößer. „Unsere Kapazitäten sind voll ausgeschöpft.“ Zuvor hatte der Verein ausschließlich direkt Obdachlosenheime, Frauenhäuser und Therapieeinrichtungen beliefert. Die Bremer Tafel arbeitet derzeit mit zwei Tourenwagen, 124 zahlenden Mitgliedern und gut zwei Dutzend ehrenamtlichen Mitarbeitern. Das Team holt Ware ein, betreut den Shop und beliefert weiterhin fremde Institutionen wie zum Beispiel die „Hoppenbank“, die sich um ehemalige Strafgefangene kümmert.

„150 bis 200 Leute“ stünden montags kurz vor der Ladenöffnung Schlange, sagte Splettstößer gestern der Presse. Doch ebenfalls gestern, kurz vor Ladenöffnung um 12 Uhr, warteten kaum 40 Bedürftige vor dem Laden. Verkäufer Conrad (44) wundert sich über Splettstößers Angaben. Den Vereinsvorsitzenden hat er „auch noch kein einziges Mal hier gesehen“, sagt er. Seine beiden Mitarbeiter nicken zustimmend.

Für einen größeren Ansturm hätten die vorhandenen Waren gestern auch kaum gereicht. In den Regalen standen zwei Kisten Manda-

rinen, etwa 50 Schalen rote Trauben, je etwa 100 Tomaten und Bananen, nebst einigen Backwaren, Teebeuteln und Konserven. „In einer Stunde ist alles weg“, weiß Conrad aus Erfahrung. „Aber wir kriegen um zwei Uhr schon wieder Nachschub.“

Und wie überprüft man die Bedürftigkeit beim Shopping zum Nulltarif? „Das beste ist, wenn sich jeder selbst einschätzt“, sagt Sigrid Nonnenbruch, die stellvertretende Vereinsvorsitzende. Also: Jeder kann kommen und kostenlos Lebensmittel abholen. „Vielleicht gibt es Mißbrauch, aber das ist sicher die Ausnahme“, so Nonnenbruch. Eine „kleine Gewissensprüfung“ sei indes das Gästebuch, in das sich alle Kunden an der Theke eintragen sollen. Darin finden sich aber auch Namen wie „Rudi Völler“ oder „Uwe Seeler“.

„Unsere beste Maßnahme gegen Mißbrauch ist die Gesichtskontrolle“, erklärt Conrad. “Wenn jemand zweimal am selben Tag kommt, werden wir schon stutzig.“ Und wenn jemand mehrere Schalen Trauben mitnehmen wolle, dann gibt Conrad trotzdem nur „eine, höchstens zwei, je nach Vorrat“. Das sähen die Kunden dann auch meistens ein.

Doch im allgemeinen herrscht im Freeshop eine freundliche Atmosphäre. „Niemand muß sich hier schämen. Ich bin selber arbeitslos und habe keine Kohle“, sagt Irina (22), die zweimal pro Woche mit Conrad im Shop arbeitet. Auch Edin (18), vor drei Jahren aus dem bosnischen Banja Luka geflohen, hat zu seinen Kunden einen guten Draht. „Meine Landsleute können oft noch kein Deutsch“, sagt er. Auch Conrad ist mit den Freeshoppern auf einer Wellenlänge: „Früher war ich Alkoholiker. Als es mir dreckig ging, wäre ich froh gewesen, wenn es so einen Shop gegeben hätte.“ ahm

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