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Friedhofsgeschichte in der UkraineDie Seelen der Toten

Das Marsfeld in Lwiw ist ein Soldatenfriedhof. Auch die seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 getöteten ukrainischen Kämpfer werden hier beweint.

Die Andenken auf den Gräbern erzählen die Geschichten der dort bestatteten Soldaten Foto: Mykola Tys/Zunma Press/imago

Lwiw taz | Erinnerungsort und eins der Wahrzeichen von Lwiw: das Marsfeld. Hier bestattete die UdSSR ihre Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg in den Kämpfen um Lwiw und dann im Kampf gegen die ukrainische Nationalbewegung starben. Bis dahin war das Marsfeld eine Wiese auf dem historischen Lytschakiw-Friedhof, etwa so breit wie ein Fußballplatz und dreimal so lang. Erst die Sowjetregierung gab dem Ort seinen Namen – benannt nach dem römischen Gott des Kriegs.

Seit eineinhalb Jahren finden auf dem Marsfeld auch diejenigen ihre letzte Ruhe, die für die Ukraine gestorben sind. Steht wieder mal eine Beerdigung an, erstarrt der Marktplatz im Zentrum von Lwiw im Westen der Ukraine für einige Minuten in Stille, und der Stadttrompeter, der traditionell im Rathaus die Hymne von Lwiw spielt, stimmt auf dem Platz die letzte Melodie für den Toten an. Dann wird der Leichnam zum Marsfeld gebracht. Mit ihm ziehen viele Menschen zum Lytschakiw-Friedhof, Verwandte und Freunde des Toten.

Jedes Grab, und davon gibt es hier mehrere Hundert, sieht aus wie ein winziges Haus. Innen finden sich intime Räume, die die Angehörigen der Verstorbenen individuell errichten. Über den Gräbern, als würden dort die Seelen der Toten schweben: Laternen, Girlanden, Blumenberge, Fotos von Männern und Frauen, Kreuze, schier unendlich viele Fahnen. Fast täglich werden neue Grabhügel aufgeschüttet.

Die Fahnen, aber auch andere Andenken, die Verwandte an den Grabstätten angebracht haben, verraten einiges über Männer, die hier liegen. Anhand der Flaggen der Einheiten, für die sie gedient haben, über Sportmedaillen, den Schal eines Fußballvereins. Auf einem Grab liegt ein Porträt des Getöteten, das sein Kind gemalt hat. An einem anderen hängt das Bild eines gezeichneten Panzers, darunter die Worte: „Ich liebe Papa.“ Eine Flasche Coca-Cola und Whisky, Bier der Marke Lwiwske Rizdwynae, Süßigkeiten, ein Kimono-Gürtel.

In letzter Zeit sieht man vermehrt Gruppen junger Leute auf dem Marsfeld. Seit Russland am 24. Februar 2022 seinen Krieg auf die gesamte Ukraine ausweitete, ist ein neuer Brauch entstanden: Mitschüler eines Verstorbenen veran­stalten zu seinem Geburtstag eine Trauerfeier in der Kirche und kommen danach zum Marsfeld.

Gedichte auf dem Marsfeld

Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg wurden in Lwiw auf dem österreichischen Soldatenfriedhof beigesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich Lwiw wieder innerhalb der Grenzen der UdSSR befand, zerstörten die sowjetischen Behörden dort viertausend Gräber. Auf mehreren Reihen roter und schwarzer Granitplatten errichteten sie dort stattdessen ein Denkmal für sowjetische Soldaten. Die Geschichte eines Ortes ist immer auch eine Frage von Deutungshoheit.

Die Sowjetunion existiert seit 1991 nicht mehr, und im gleichen Jahr erklärte sich die Ukraine unabhängig. Erst 2021 wurde der Eiserne Sowjetische Orden des Großen Vaterländischen Krieges aus dem 2016 eröffneten Museum „Territorium des Terrors“ drei Kilometer weiter nördlich vom Friedhof entfernt. Gefordert hatte dies unter anderem der Lwiwer Dichter Juri Ruf. Er las zu dem Anlass seine Gedichte auf dem Marsfeld vor.

Im Februar 2022 meldete sich Ruf zum Dienst bei der Armee. Am Abend des 1. April 2022 starb er 41-jährig in einer Schlacht in der Nähe von Luhansk. Jetzt befindet sich seine letzte Ruhestätte in einer der ersten Reihen von Gräbern der gefallenen Verteidiger der Ukraine. Auch eine Straße wurde nach ihm benannt.

In Lwiw sagt man: „Wenn es dir schwer ums Herz ist, wenn du das Gefühl hast, aufgeben zu müssen, dann komm zum Marsfeld.“ Dort, zwischen den Gräbern, könne man in die Gesichter junger Männer sehen, die gekämpft und nicht aufgegeben haben. Hier sei es einfach, das eigene Leben und die Menschen um einen herum wertzuschätzen. Und die Ein­woh­ne­r*in­nen von Lwiw kommen. Es ist ihre Art, denen gegenüber Dank zu zeigen, die ihr Leben für sie gegeben haben.

Doch das soll nicht alles sein: Bald soll es für die Helden der Ukraine auf dem Marsfeld eine eigene Gedenkstätte geben. Aktuell läuft die Ausschreibung dafür.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

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