Friedensprozess in Äthiopien: Mehr Frieden und neue Ängste
Erster Linienflug, mehr Zusammenarbeit: Äthiopiens Regierung und Tigrays Rebellen beschleunigen die Umsetzung ihres Friedensvertrags. Die Zeit drängt.
Es war ein Friedenssymbol, als am Mittwoch der erste Linienflug der äthiopischen Fluglinie Ethiopian Airlines seit rund zwei Jahren in Mekelle landete. Bilder des Regionalfernsehens vom Flughafen der Hauptstadt der Rebellenregion Tigray zeigten emotionale Begegnungen von im Krieg getrennten Familienangehörigen. „Friedensdividende“, twitterte Äthiopiens Finanzminister Eyob Tekalign Tolina begeistert.
Fast zwei Monate ist es schon her, dass Äthiopiens Regierung und die in Tigray herrschende TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) in Südafrika ein Abkommen zur Beendigung ihres genau zwei Jahre währenden Krieges schlossen, der im November 2020 begonnen hatte, als Äthiopien die Kontrolle Tigrays von der damaligen TPLF-Regionalregierung übernehmen wollte und die TPLF in den Untergrund ging.
Nach mehreren blutigen Kriegsrunden, die nach US-Schätzungen insgesamt über 500.000 Tote gefordert haben, begannen im Oktober Friedensgespräche unter Vermittlung der Afrikanischen Union (AU). Im Friedensabkommen vom 2. November sagte die TPLF, die zuletzt schwere Verluste gegen die von Eritrea unterstützte äthiopische Armee erlitten hatte, ihre Entwaffnung und die Rückübertragung der Macht in Tigray an Äthiopiens Regierung zu; im Gegenzug endeten die Kampfhandlungen.
Seitdem herrscht offiziell Frieden und die TPLF-kontrollierten Städte, einschließlich Tigrays Hauptstadt Mekelle, werden nicht mehr bombardiert. Aber der Norden Tigrays bleibt von Eritrea besetzt und Tigrays Medien sprechen dort von Massakern durch eritreische Soldaten, mit je nach Quelle mehreren Hundert bis mehreren Tausend Toten seit dem Friedensabkommen. Im Westen Tigrays herrschen Milizen der äthiopischen Nachbarregion Amhara, die diese Region für sich beanspruchen und Tigrayer systematisch vertreiben.
Dramatische Not
Selbst in Mekelle herrscht weiterhin dramatische Not. Erst am 6. Dezember wurde die Stadt überhaupt wieder an das äthiopische Stromnetz angeschlossen, erst am 19. Dezember öffnete in Mekelle wieder die erste Bankfiliale. Dabei ist die Wiederherstellung öffentlicher Dienstleistungen in Tigray Teil des Friedensabkommens. Auch der Rückzug Eritreas gehört aus TPLF-Sicht dazu, aber Eritrea war am Friedensvertrag nicht beteiligt.
Je länger Eritreas Haltung ungeklärt bleibt, desto fragiler erscheint der Friedensprozess. Anfang Dezember hatte die TPLF den Rückzug von 65 Prozent ihrer Kämpfer verkündet. Aber kurz vor Weihnachten meldeten äthiopische Medien, Eritreas Regierung lehne das Friedensabkommen ab und wolle im Bündnis mit Amhara-Milizen weiter Krieg führen. In diesem Fall würde wohl auch die TPLF wieder zu den Waffen greifen, Äthiopiens Regierung wäre Zuschauer einer neuen Kriegsrunde im eigenen Land.
Dies zwingt nun Tigrays Machthaber in Mekelle und Äthiopiens Machthaber in Addis Abeba dazu, gemeinsam an der Stärkung des Friedens zu arbeiten. Bei Gesprächen in Kenias Hauptstadt Nairobi finalisierten beide Seiten am 23. Dezember die Bildung eines gemeinsamen Ausschusses zur Überwachung des Friedensprozesses.
Am 26. Dezember landete erstmals seit dem Friedensvertrag eine äthiopische Regierungsdelegation in Mekelle – ein „Meilenstein“, freute sich TPLF-Chefunterhändler Getachew Reda. Äthiopiens Regierungssprecher Redwan Hussien forderte daraufhin gleich die „Übergabe schwerer Waffen“ durch die TPLF und die „Übernahme der verfassungsgemäßen Pflichten der äthiopischen Streitkräfte“ in Mekelle bis spätestens Donnerstag – Forderungen, die manchen Tigrayern zu schnell gehen.

Äthiopien braucht dringend Geld
Nicht nur die Befürchtung eritreischer Störmanöver treibt beide Seiten zur Eile, auch die wirtschaftliche und politische Situation. Äthiopiens Wirtschaft ist faktisch zum Stillstand gekommen und das Land mit 120 Millionen Einwohnern braucht dringend Geld von außen; die Inflationsrate liegt bei 30 Prozent, immer mehr Menschen rutschen in Armut ab. Nach äthiopischen Schätzungen würde der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Infrastruktur Tigrays 20 Milliarden US-Dollar kosten.
In Tigray sind nach UN-Angaben 90 Prozent der sechs Millionen Einwohner zum Überleben auf humanitäre Hilfe angewiesen; die Region war monatelang durch Äthiopiens Regierung komplett blockiert.
Am 15. November erreichte ein erster Lebensmittelkonvoi des UN-Welternährungsprogramms WFP Tigrays Hauptstadt Mekelle und weitere folgten, aber immer noch wird die Mehrzahl der Bedürftigen nicht erreicht.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlentscheidung
Mit dem Wahl-O-Mat auf Weltrettung
Gedenken an Hanau-Anschlag
SPD, CDU und FDP schikanieren Terror-Betroffene
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Russland und USA beharren auf Kriegsschuld des Westens
Trump, Putin und Europa
Dies ist unser Krieg
Jugend im Wahlkampf
Schluss mit dem Generationengelaber!
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt