Freundschaftsdienst im Netz: Mein Sozialporno
Unsere Autorin hasste Facebook. Ein Erdbeben und eine Revolution später kann sie nicht mehr ohne das soziale Netzwerk. Das Protokoll einer Annäherung.
Ich habe 349 Freunde. 53 davon würde ich nicht auf der Straße erkennen. 68 lade ich zum runden Geburtstag ein. 32 habe ich jahrelang nicht gesprochen. 64 sind Kollegen, 5 Familienmitglieder, 8 aus der Schule. 16 sind Freunde, weil ich ihre Bücher gelesen habe oder auf ihren Konzerten war. Sie kennen mich garantiert nicht. 14 meiner Freunde kenne ich nicht. Drei Freunde sind Kneipen, einer ein Straßencafé.
Der Rest ist das, was man im wahren Leben als "lose Bekannte" bezeichnet. Es werden jede Woche mehr. Vor einem Jahr hatte ich noch keine Freunde. Ich verabscheute Facebook mit der gleichen Inbrunst, mit der ich als friedensbewegte Jugendliche einst Nena verachtete: zu oberflächlich, nichtssagend, dumm. Künstliche Selbstdarstellung.
Der Anfang vom Ende ernstzunehmender Kommunikation. Ich mokierte mich über Backpacker, die in Thailand die meiste Zeit im Internetcafé verbringen, um ihr bisschen Strandabenteuer am Laptop auszuschmücken. Sie taten mir alle leid. Schon aus Prinzip war ich gegen alles, wofür Facebook stand. Die Sache mit dem Datenschutz. All die Privatfotos öffentlich im Netz. Mobbing, sexueller Missbrauch - you name it. Der Film "The Social Network" war Wasser auf meine Mühlen.
Als im sehr sozialen Netzwerk der "Weltreporter" vor ein paar Jahren diskutiert wurde, ob wir eine eigene FB-Seite benötigen, schlug ich mich auf die Seite der Gegner. Angemeldet hatte ich mich zu dem Zeitpunkt zwar, aber Facebook nie wirklich benutzt.
Damals gab es noch all die albernen Tests: dein wahres Alter, dein zukünftiger Liebhaber - anfangs lustig, dann zeitraubender Kinderkram. Lästig und ärgerlich. Nicht dass ich so richtig kapierte, mit welchen Funktionen man den Info-Schwall regeln kann.
Meine technophobe Seite
Ich gehöre zur technophoben Sorte, die sich nicht über ein neues Handy freut, sondern leidet, weil sie nun wieder umlernen muss. Zur glühenden Facebook-Hasserin wurde ich letztendlich, als ich die Freundesanfrage einer Frau bekam, die ich nicht ohne Peinlichkeit ablehnen konnte. Aus lauter Verlegenheit meldete ich mich ab.
Der wahre Mann an meiner Seite durchschaute das. "Du kennst dich einfach nicht richtig damit aus", behauptete er. "Und du nimmst das alles zu ernst." Er hat konstant unter hundert Freunde, im echten Leben wie auf Facebook. Bei anderen rannte ich mit meiner Aversion meistens offene Türen ein: Viele fanden Facebook doof oder kamen damit auch nicht klar.
Wir klangen so anti (und antiquiert) wie vor zehn Jahren, als man sich übers Simsen mokierte. Wer etwas einwarf wie "Kontakt zur Familie halten", "so praktisch", "alte Schulfreunde", klang fast schuldbewusst. Als ob es um eine schlechte Angewohnheit ginge. Oder um heimliches Botox. Facebook war einfach nicht "p.c.".
Anfang des Jahres weichte meine Antihaltung langsam auf - die Revolution in Ägypten, das Erdbeben in Christchurch und dann Japan. So viele Menschen, die schneller im Netz ein Lebenszeichen von sich geben und etwas bewegen können: Das kann doch nicht alles nur schlecht sein?
Dann brachte ich ein Buch heraus. Facebook, längst etabliert und unumgänglich, erschien mir als PR-Plattform am einfachsten. Billiger als eine neue Webseite. Ich würde notgedrungen ins Feindesland zurückkehren, aber nur "rein professionell" natürlich. Nichts Privates, keine Urlaubsfotos und schon gar keine Statusmeldungen darüber, wie weich mein Frühstücksei heute war.
Bestsellerrekorde, Fortsetzungen, Kolumnen - ja, davon würde ich im Netz gerne berichten. Oder mich ganz bedeckt halten, vornehm und mysteriös. Nur ein einziges Foto, das nicht zu viel preisgibt. Schließlich ging es hier auch um mein öffentliches Image - verlockend wie verhängnisvoll für eine Publizierende mit überschaubarem Wirkungsgrad. Ich meldete mich an und war angefixt, ohne es zu ahnen.
Meine schamlose Selbstvermarktung
Jeder, der mich fortan anfunkte, wurde in die Freundesschar aufgenommen. Denn wer professionell gut dastehen will, muss Leute kennen. Diesen Spagat untermauerte ich einmal auf meiner Wall: "Liebe neue Freunde, ich benutze Facebook nur zur schamlosen Selbstvermarktung. Hoffentlich treffe ich euch im echten Leben."
"Schön wär's", kam als lakonischer Kommentar einer früheren Mitbewohnerin aus Los Angeles zurück. Eine von den Menschen, die mich nach zwanzig Jahren dank Facebook wiederfand. Was mich freute.
Wochen später tat mir mein arroganter Spruch leid. Denn da hatte ich längst begonnen, die Seiten anderer zu durchstöbern. Ich hatte in ihren Freundeslisten gewildert und Menschen angefragt, deren Namen ich noch vage kannte. Es war wie ein Sog. Ich kommentierte, ich verfolgte Posts, ich klickte mich neugierig durch die Urlaubs- und Partybilder halbwildfremder Menschen und wartete darauf, von ihnen als "Freund" akzeptiert zu werden.
Es war albern, aber aufregend. Professionell war daran gar nichts. Eher pubertär. Eine Parallelwelt tat sich auf, von der ich bisher nichts ahnte: Gesichter von früher und solche, die ich nur aus der Entfernung kannte. Menschen, die sich tatsächlich pausenlos über Facebook austauschen, selbst wenn sie unter einem Dach wohnen.
Nette Leute, kluge Ideen. Und etliche Freunde aus dem wahren Leben, die auch immer gegen Facebook waren. Es gab Einladungen und Veranstaltungen, von denen ich ohne Facebook nie erfahren hätte. Oft was zum Grinsen.
Wer mich bisher höchstens mal gegrüßt hatte, ließ mich plötzlich in sein Leben gucken: Videos, Zeitungsartikel, Kinderfotos. Alles so cool, alles so witzig, und ich als Voyeurin stumm dabei, Zaungast der Inszenierung. Es wurde immer faszinierender. Faszinierend bis bedenklich. "FaceCrack" nannte jemand meine neue Sucht. Natürlich musste ich Junkie das kommentieren.
Meine zwanghafte Selbstinszenierung
Leider kein "Like". Und "Like"-Klicks, die zählen. Es gab Tage, an denen ich mehr Konversation auf Facebook betrieb als in echt. Dass das zwanghafte Überprüfen meiner Wall mich auch von der Arbeit abhielt, war an sich nichts Neues. Aber im Unterschied zu E-Mails und Livechats war etwas bei Facebook neu: Je mehr es mich auf diese Internetbühne zog, umso mehr befürchtete ich mich dort zu blamieren.
Nicht mithalten zu können, keine geistreichen Reaktionen hervorzurufen. In anderen Worten: ignoriert zu werden. Was so ziemlich das Letzte ist, was man bei Facebook will. Solche Gefühle kannte ich nur aus Schulzeiten und kurz nach dem Umzug ins Ausland. Wenn man die gesellschaftlichen Spielregeln nicht richtig beherrscht, tritt Paranoia auf.
Dr. Ekant Veer von der Universität Canterbury in Christchurch hat gerade das, was er die "dunkle Seite" des sozialen Netzwerks nennt, untersucht. Nicht nur dass das Geplänkel und Posieren soziale Phobien auslösen kann.
Im Vergleich mit der Scheinwelt der anderen fühlt man sich entweder inadäquat - oder weidet sich an deren Trennungen, Peinlichkeiten und Schlagabtäuschen. Schadenfreude als "Freak-Show", so der neuseeländische Marketingpsychologe - man kann schamlos starren, ohne gesehen zu werden.
Meine Schmerzgrenze ist erreicht, als eine exhibitionistische Bekannte verkündet, welcher Körperteil ihr soeben beim Skypen präsentiert wurde. Gleichzeitig amüsiere ich mich, halb geschockt, und lese seitdem all ihre Posts. Sozialporno.
Bei Facebook komme ich mir manchmal vor wie auf der falschen Party. Man steht so rum und versucht gut auszusehen. Es lungern Leute in der Nähe, manche reden zu viel, alle wollen sich amüsieren - aber man schielt zu denen herüber, die scheinbar so viel interessanter sind.
Da geht die Post ab und man selber sich "mal schnell ein Bier holen" in der Hoffnung, dass da drüben jemand winkt. Ein komischer Mikrokosmos, eine unnatürliche Zwangsgemeinschaft. Später fragt man sich, warum man eigentlich da war. Aber geht beim nächsten Mal doch wieder hin.
So, und bevor ich jetzt wieder so kritisch klinge, muss ich noch was beichten. Vor kurzem habe ich ein Album mit Privatbildern auf meine FB-Seite gestellt. Jawohl: Kinder, Urlaub, Feste - das volle Programm. Der Drang, optisch mithalten zu wollen, ist wohl einfach zu groß. Oder die Eitelkeit. Kurz darauf sind aus den 349 Freunden 348 geworden. Irgendjemand hat mich entfreundet. Abgemeldet, ausradiert, einfach so. Jetzt bloß nicht panisch werden.
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