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Fremde Geschwister

von JUTTA LIETSCH

„Und nun Taiwan!“, rief der chinesische Staatspräsident Jiang Zemin, kaum war die kleine portugiesische Kolonie Macao 1999 unter die Herrschaft Pekings zurückgekehrt. Was in den Ohren der Taiwaner wie eine Drohung klang, ließ die Landsleute auf dem Festland freudig erschauern. Denn es gibt wohl kein anderes Thema, bei dem sich die Bewohner der Volksrepublik so sicher und so einig mit ihrer Regierung fühlen: Taiwan, die nach dem Bürgerkrieg 1949 verlorene Insel, muss endlich heimgeholt werden.

Weit mehr als das Ende des Krieges im Nachbarland Vietnam 1975 hatte die Entwicklung in Europa vor zehn Jahren die Festlandschinesen aufgerüttelt: Deutschland wurde zum Beispiel dafür, dass eine Wiedervereinigung möglich ist – sogar auf friedlichem Weg.

Beispiel Deutschland

Auch in einem anderen geteilten Land Asiens verfolgen Politiker und Militärs seitdem die Folgen der deutschen Einheit mit Argusaugen: im lange besonders bitter verfeindeten Nord- und Südkorea. Wie einst in Deutschland zwingt in Korea die wirtschaftliche Misere die Kommunisten zur Öffnung.

Nach dem historischen Treffen in Pjöngjang zwischen dem schillernden „lieben Führer“ Kim Jong Il und seinem südkoreanischen Amtskollegen Kim Dae Jung im Juni trafen sich erst vor wenigen Tagen die beiden Verteidigungsminister in Seoul.

Das Tauwetter in Korea gehört zu den bizarrsten politischen Entwicklungen der jüngsten Zeit: Während sich die beiden Armeen immer noch bis an die Zähne bewaffnet und in ständiger Alarmbereitschaft gegenüberstehen, ziehen sich die Athleten des Nordens und des Südens bei den Olympischen Spielen in Sydney dieselbe Uniform an und marschieren gerührt nebeneinander her.

„Der gleiche Uterus“

Schon im Kindergartenalter haben Generationen von Festlandschinesen zwei große Wahrheiten gelernt, die von der offiziellen Propaganda ständig wiederholt werden: Erstens sind die Taiwaner todunglücklich darüber, vom Festland getrennt zu sein. Zweitens wird sich ihr Wunsch, in einem großen und mächtigen China zu leben, erst erfüllen, wenn Peking wieder die Kontrolle über alle Teile des Landes hat. Dann werden auch Armut und Niederlagen der Vergangenheit bald vergessen sein.

Dass die Beziehung zu den Brüdern und Schwestern auf der kleinen Insel ganz besonders eng sei, unterstreicht der in der Volksrepublik offiziell verwendete Begriff „tongbao“. Er wird im Deutschen meist mit „Landsleute“ übersetzt, heißt aber wörtlich etwa „die aus dem gleichen Uterus kommen“.

Außer den Taiwanesen galten nur die Bewohner der früheren Kolonien Macao und Hongkong als „tongbao“. Im Unterschied dazu sind zum Beispiel die chinesischstämmigen Singapurer oder Amerikaner schlicht „huaqiao“ – „Überseechinesen“, deren Vorfahren einst freiwillig ins Ausland gingen.

Die Rückkehr Taiwans und die Verteidigung der Einheit des Landes ist in der Propaganda der Kommunistischen Partei in Peking inzwischen zum wichtigsten politischen Ziel geworden, das von den großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen ablenken soll.

Ein China. Zwei Blicke

Die „Taiwan-Frage kann nicht ewig aufgeschoben werden“, bekräftigte Premier Zhu Rongjii am Wochenende wieder in seiner Rede zum 51-jährigen Geburtstag der VR China. Zwar drohte er diesmal nicht – wie früher mehrfach geschehen – mit einer militärischen Attacke.

Aber Taiwans demokratisch gewählter Präsident Chen Shuibian weiß genau: Wenn er es auch nur wagen würde, das Wort „Unabhängigkeit“ laut auszusprechen, müsste er mit dem Schlimmsten rechnen. Auch das Wort „Referendum“ vermeidet er vorsichtigerweise. Stattdessen versucht er mittlerweile mit Wortspielereien Zeit zu schinden: Er sei bereit, erklärte Chen kürzlich, von „einem China“ zu sprechen – falls Peking zustimmt, dass jeder diesen Begriff „so interpretiert, wie er will“.

Dass die meisten Taiwaner lieber am Status quo hängen, als die rote Fahne zu akzeptieren, können sich selbst aufgeklärte und regimekritische Festländer nicht erklären: Schließlich hat ihre Regierung den Inselbewohnern in ihren Augen ein überaus großzügiges Angebot gemacht: Taiwan solle auch unter Peking wirtschaftlich und politisch weitgehend eigenständig bleiben dürfen – stärker noch als Hongkong.

Alles eine Familie – oder?

Ein Recht zur Selbstbestimmung gibt es nicht: „In einer Familie stimmen die Kinder ja auch nicht darüber ab, ob sie zu den Eltern gehören“, findet die Pekinger Beamtin Zhang. Ein Referendum über die Zukunft Taiwans? „Ja, aber dann müssen alle Chinesen abstimmen – sowohl die 20 Millionen Taiwaner als auch die 1,2 Milliarden Festländer“, sagt sie und lächelt.

Immerhin haben sich die Festländer und Taiwaner in den letzten Jahren sehr viel besser kennen gelernt als zuvor: Millionen taiwanische Touristen kamen ins Land, die Verwandten von der kleinen Insel gehören zu den wichtigsten Investoren, taiwanische Filme und Schlager stehen ganz oben auf den Hitlisten in China. Kürzlich durfte die Gemeinde der taiwanischen Geschäftsleute in der südlichen Provinz Guangdong sogar eine eigene Schule errichten – und wurde dafür in der offiziellen Presse groß gefeiert.

Das ist ganz anders als in den beiden Koreas, deren Bewohner ein halbes Jahrhundert absolut voneinander abgeschottet worden waren. Weniger als zweihundert Familien, die spätestens seit dem Koreakrieg nichts mehr voneinander gehört hatten, durften sich inzwischen – unter scharfer Bewachung – für einige Stunden treffen. Die Furcht vor Spionen und Saboteuren ist groß.

Die Regierung in Südkorea schickt Reis nach Norden und hofft, dass alles gut geht. Sie fürchtet nichts so sehr wie einen Zusammenbruch des Regimes in Pjöngjang mit Millionen Flüchtlingen. Das ist der Alptraum: Dass 17 Millionen Brüder und Schwester aus dem Norden in den Süden wandern und erwarten, innerhalb kürzester Zeit für die Entbehrungen unter dem kommunistischen Regime entschädigt zu werden.

Die Kosten der Wiedervereinigung in Deutschland hat die Südkoreaner ernüchtert – dabei war die DDR-Wirtschaft war um Lichtjahre weiter als die Fabriken und Farmen Nordkoreas.

Das ungleiche Vietnam

Dass Vietnam weder für die Koreaner noch für die Chinesen ein Vorbild ist, kann dabei wenig überraschen: Anders als Deutschland und Taiwan ist Vietnam auch ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung arm und unzufrieden. Noch immer empfinden die Bewohner von Saigon die Regierung im Norden als ungeliebte Herren, die den reicheren Süden einerseits auspressen und deren Geschäftsleute andererseits behindern. Der Preis für den Sieg des Nordens war hoch – mehr als eine Million Südvietnamesen flohen nach dem Krieg ins Ausland. Mehr als 400.000 Menschen landeten in „Umerziehungslagern“ – ohne Gerichtsurteil, manche mehr als 15 Jahre lang. Die Erinnerung ist noch frisch – auch wenn die Lager inzwischen geschlossen und die Zwangskollektivierung rückgängig gemacht wurde. Ironischerweise sind es heute gerade die nach 1975 geflüchteten Übersee-Vietnamesen, die die Wirtschaft des Landes mit ihren Überweisungen und Investitionen stützen.

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