Freestyle Chess an der Ostsee: Glamouröse Brett-Show
In einem Luxusressort an der Ostsee wird gerade eine Schach-Revolution vorangetrieben. Der Weltverband hält dagegen. Es geht um Macht und Geld.
![Zwei Schachprofis sitzen am Tisch vor dem Brett, an der rechten Seite Zuschauer Zwei Schachprofis sitzen am Tisch vor dem Brett, an der rechten Seite Zuschauer](https://taz.de/picture/7524497/14/37621064-1.jpeg)
„And the number is: 200“ liest Holly Buettner die Ziffern auf einer kleinen Kugel vor. In weißer Manschetten-Bluse und Louboutin-Stilettos steht sie auf einer Bühne im Luxusressort Weissenhaus an der Ostsee. Wie der Verschnitt einer Wettshow in Vegas sieht es hier aus, mit Lottomaschine, rotem Vorhang, Trophäe und Gong. Beobachtet wird sie von zehn Männern in bunten, maßgeschneiderten Samt-Jacketts. Sie sind die eigentlichen Stars der Veranstaltung. Denn die ganze Show wird abgezogen, damit sie Freestyle Chess spielen können. Eine Spielvariante, die Schach revolutionieren soll.
Zumindest, wenn es nach Jan Henric Buettner, dem Gatten der Showmasterin, geht. Der 60-Jährige ist Unternehmer, selbsternannter Gründer von Freestyle Chess und hostet in seinem Private Nature Luxury Ressort in dieser Februarwoche den Auftakt der „Freestyle Chess Grand Slam Tour“. Sein Mitstreiter ist der weltbeste Schachspieler Magnus Carlsen.
Beim Freestyle werden die hinteren Spielsteine auf dem Brett mit ausgeloster Grundstellung zufällig angeordnet. Das soll Schach zugänglicher machen, da es verhindert, dass Partien durch einstudierte Eröffnungssequenzen entschieden werden. Ganz innovativ ist das nicht, Bobby Fischer hat mit Fischerschach diese Spielvariante schon in den 1990ern erfunden. Neu ist, aus dem Spiel eine Marke zu machen. Jan Henric Buettner hat bisher selbst 3 Millionen Euro investiert und das Preisgeld für dieses Jahr mit insgesamt 750.000 Dollar ungewöhnlich hoch angesetzt.
Und er hat weitere Geldgeber*innen gefunden. Etwa Jan Deepen, der Gründer des Zahlungsdienstleisters SumUp, oder die NBA-Legende Derrick Rose, mit dem eine Schachshow in Vegas geplant sei. „Mir geht es darum, dass die Spieler Spaß haben“, sagt Buettner. Auf seiner Gürtelschnalle prangt das Logo von Freestyle Chess – zwei Meerkatzen aus dem Wappen des Weissenhaus-Schlosses.
Inszenierte Rebellion
Der Spaß – und vielleicht das Geld – bringt die internationale Elite des Schachs ins Luxusressort: Den amtierenden und jüngsten Weltmeister Gukesh Dommaraju, die Nummer 2 in der Weltrangliste nach Carlsen, Fabiano Caruana. Oder Alireza Firouzja, Großmeister und Fashion-Ikone. Magnus Carlsen läuft passend zum Gastgeberpaar auf – in weißem Jackett, das Weissenhaus-Wappen auf das Hemd gestickt. Noch im Dezember hatte er sich bei einem Spiel geweigert, dem offiziellen Dresscode des Schachweltverbands Fide zu folgen und stattdessen in Jeans gespielt.
Diese inszenierte Rebellion rückte die Fide in ein schlechtes Licht – eine perfekte Publicity für das Freestyle-Chess-Event. Der Verband wurde von der Gegenwart eingeholt, denn die Welt des Schachs hat sich seit der Pandemie digitalisiert. Über Werbung und exklusive Inhalte laufen mittlerweile lukrative Geschäfte auf den Onlineplattformen. Schon vor dem Turnier im Weissenhaus ist daher klar, wer gewinnt: Carlsen als Markenbotschafter und Buettner als Unternehmer dürften großen Profit aus der Veranstaltung schlagen.
Doch die Fide will mitreden. Sie sieht sich in ihrem Vorrecht, Regeln für die Schachwelt aufzustellen, verletzt. So beansprucht die Organisation, dass nur sie einen Weltmeistertitel vergeben darf. Genau darüber stritten sich Buettner und der Vorsitzende der Fide, Arkady Dvorkovich, monatelang. Denn es stand im Raum, den Gewinner des Freestyle Slam „Weltmeister“ zu nennen. Wer mit dieser Idee aufkam? Buettner behauptet, die Fide sei auf ihn zugekommen und habe für die Vergabe 500.000 Dollar gefordert, er habe nur 100.000 geben wollen. Auf eine Anfrage der taz äußert sich die Fide dazu nicht. In einer Mitteilung lehnte die Organisation den Deal aber offiziell ab und kritisierte den „intransparenten Qualifikationsprozess“ des Turniers.
Zudem habe der Verband Spieler unter Druck gesetzt: Wenn sie beim Freestyle-Turnier dabei wären, dürften sie nicht mehr an Turnieren der Fide teilnehmen. „Kinderkacke“, findet Buettner und organisierte am Sonntag einen „runden Tisch“ im Weissenhaus, damit die Spieler selbst entscheiden, welcher Titel künftig vergeben wird. Der im Herbst in Südafrika zu kürende Gewinner soll nun „Freestyle Chess Champion“ heißen. Die Welt wird mal eben aus dem Titel gestrichen, teilte der Pressesprecher am Montag mit. Das hätten die Spieler einstimmig entschieden.
Nur digital zugängliches Event
Allerdings gibt es weitere Regeln, die die Fide und den privatwirtschaftlichen Verein Freestyle Chess unterscheiden. Die Fide verbietet etwa seit dem russischen Angriffskrieg Spielern, unter russischer Flagge anzutreten. „Wir versuchen, möglichst unpolitisch zu sein“, sagt Buettner. So ganz einig sind sich Buettner und die Turnierleitung aber anscheinend nicht. Für Wettkampf-Direktor Sebastian Siebrecht ist klar, dass russische Spieler auch im Freestyle Chess unter der neutralen Fide-Flagge spielen würden.
Außerdem fördert die Fide Nachwuchstalente, etwa durch Workshops an Schulen. Freestyle Chess will das durch eine „Freestyle Chess Academy“ auch schaffen. Wie die genau aussehen soll? „Ich erzähle gerne erst mal und schaue dann, wie’s läuft“, erklärt Buettner.
Auch die im Weissenhaus viel betonte Zugänglichkeit von Freestyle-Schach ist weitläufig zu verstehen. Bei klassischen Schachturnieren ist es etwa üblich, Schachbretter für die Gäste aufzustellen. Schach-Amateure wie auch Zuschauer*innen kann man auf diesem Turnier aber lange suchen. „Wir mussten leider aus Platzgründen Leute wegschicken, die aus Hamburg und Bremen angereist waren“, sagt ein Sprecher der taz. Dafür ist die ganze Veranstaltung online zugänglich. Es sind mehr Kameras als Menschen vor Ort, auch die größten Schach-Influencer sind eingeladen. Ein Händchen für den Hype hat Freestyle Chess also.
Kurz nach der Ziehung der Kugel erscheint auf der Leinwand die Kombination für die Aufstellung der nächsten Partie. Die Spieler der gleichen Farbe können zusammensitzen, sich über die Startpositionen austauschen. Währenddessen dann nur noch das Klicken der Uhren. An diesem Samstag gewinnt Alireza Firouzja die erste Runde. Für sein Post-Game-Interview zieht er sich noch schnell eine Prada-Jacke über, seine Augen glänzen hinter der Louis-Vuitton-Brille. Zwischen all dem Glamour freut er sich einfach über den Sieg.
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