Freeclimbing im Yosemite-Nationalpark: In der Wand
Zwei US-Amerikaner gehen eine der gewagtesten Klettertouren. Sie besteigen die Route am El Capitan ohne Aufstiegshilfen.
Wenn man Kevin Jorgeson so reden hört, dann könnte man meinen, er liege nach einer ganz gewöhnlichen Tageswanderung auf irgendeinem gut bewirtschafteten Zeltplatz in seinem Schlafsack. Sein Tonfall ist betont lakonisch, so als wolle er sich selbst davon überzeugen, dass das nichts Besonderes ist, was er und sein Partner Tommy Caldwell da gerade unternehmen.
„Ist ziemlich windig hier“, sagt er, während seine Biwak-Zeltwand ihm an die Ohren schlägt wie das Hauptsegel einer Rennyacht im Sturm vor Kap Hoorn. Und: „Das waren ganz schön scharfe Kanten da draußen heute, morgen müssen wir mal Pause machen, um die Finger heilen zu lassen“, teilt er mit.
Was man in dem Video seines Online-Tagebuches nicht sieht, ist, dass Jorgesons Zelt 150 Meter über dem Boden schwebt, eingehakt in die Spalten einer 300 Meter hohen nackten Wand. Es ist ein Geiernest zwischen Himmel und Erde, drei Quadratmeter Kunstfaser und Aluminium, die wohl nur ein Extremkletterer als gemütliche Schlafstätte empfinden kann.
Es ist der siebte Tag eines Wahnsinnsunternehmens, einer alpinistischen Großtat, die Kletterkollegen von Jorgeson und Caldwell als die Expedition des Jahrhunderts bezeichnen. Am 27. Dezember sind die beiden Kalifornier in die Dawn Wall im Yosemite-Nationalpark eingestiegen, die wie die Glasfassade eines Wolkenkratzers senkrecht aus dem Talboden ragt. Die Dawn Wall, die so heißt, weil sie nur in den frühen Morgenstunden ein paar Sonnenstrahlen abbekommt, ist die denkbar schwierigste Route die berühmte Nose hinauf, an der jeder Kletterer, der etwas auf sich hält, sich einmal im Leben gemessen haben will. El Capitan heißt der Berg, der zum Mekka der besten Kletterer geworden ist.
Letzte große Herausforderung
Jorgeson und Caldwell versuchen als Erste, die Dawn Wall komplett frei zu klettern – eine der letzten großen Herausforderungen im Freeclimbing. Die Risse in der Wand, an denen sie sich hochhangeln, sind selten so groß wie eine Fingerkuppe und meistens messerscharf. An manchen Abschnitten müssen sie wie Spiderman zur nächsten Spalte springen.
Für den gewöhnlichen Freikletterer ist die Bezwingung einer 30-Meter-Wand eine gelungene Expedition. Jorgeson und Caldwell reihen 30 solcher Routen direkt aneinander. Und alle 30 Abschnitte besitzen die denkbar höchsten Schwierigkeitsgrade in diesem Geschäft.
Als die Handicap-Skala für den Yosemite Park angelegt wurde, war 5,9 der maximal schwierigste Klettergrad. Caldwell und Jorgeson klettern jeden Tag zwischen 5,12 und 5,14. Die Kletterwelt, deren Natur es ist, nach immer neuen Extremen zu suchen, ist sich einig, dass diese Tour das Schwierigste ist, das je ein Bergsteiger versucht hat. Kein Speedrekord und keine Sammlung von 8.000er Gipfeln kann da mithalten.
Fünf jahre Vorbereitung
Caldwell selbst, der als der vielleicht talentierteste Kletterer seiner Generation gilt, verlor in den fünf Jahren seiner Vorbereitung immer wieder den Glauben daran, dass es überhaupt machbar ist, war er sich da ausgedacht hatte. Erst als Jorgeson sich freiwillig meldete, sich ihm anzuschließen, gewann er das Zutrauen, es tatsächlich anzugehen. Der Kollege Alex Honnold, der den Geschwindigkeitsrekord an der Nose hält und der erst Mitte der Woche bei Jorgeson und Caldwell vorbeigeklettert ist, um Nüsse und Schokolade abzuliefern, sagt: „Die schwierigsten Passagen, welche die beiden klettern, sind schwieriger, als alles, woran ich mich je versucht habe.“
Und doch stehen sie jetzt kurz davor, das Unmögliche zu meistern, ihren „Weißen Wal“ zu erlegen, wie Kevin Jorgeson die jahrelange Besessenheit der beiden von der Dawn Wall beschreibt. Wenn das Wetter im Yosemite Valley hält, könnten sie schon am Wochenende am Gipfel der Nose, die man von der anderen Seite auch ganz gemütlich bewandern kann, ihre Familien begrüßen.
Die schwierigsten Abschnitte sind jedenfalls geschafft, insbesondere der 15., den die beiden am Dienstag hinter sich gebracht haben, eine lange Traverse mit unmöglichen Sprüngen, rasiermesserscharfen Spalten und Eisbrocken, die aus der Wand brachen. 12 Stunden arbeiteten sich die zwei Männer am Abgrund entlang, drei Mal stürzte einer der beiden und musste die verpatzte Passage wiederholen. „Eigentlich kann man nur von Glück reden, wenn man da durchkommt“, sagte Jorgeson am Abend in seinem Hängezelt.
„Sich etwas ausdenken, was unmöglich scheint“
Für Tommy Caldwell ist das „Project Mescalito“ bereits der fünfte Rekord an der Nose, jener Wand, der er tatsächlich wie Captain Ahab dem Weißen Wal ein Großteil seines Bergsteigerlebens gewidmet hat. Er ist als Erster schneller als 12 Stunden die Nose hinaufgestürmt, er hat mehrere Routen am Capitan erschlossen. Einmal hat er die Wand, für die durchschnittlich begabte Kletterer zwei oder drei Tage brauchen, innerhalb von einem Tag zwei Mal auf verschiedenen Routen begangen.
„Das ist es, worum es für mich beim Klettern geht“, sagte Caldwell bei einem Interview vor dem Einstieg in die Wand, „sich etwas auszudenken, was unmöglich scheint, und irgendwie einen Weg zu finden, es möglich zu machen.“ Die Grenze des als machbar Gedachten haben Caldwell und Jorgeson jetzt schon verschoben. Gleich, ob sie in den nächsten Tagen noch den Weg zum Gipfel finden oder nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung