Frauenroman aus Albanien: Eine Akte geöffnet
Die Sippe zählt in Albanien immer noch mehr als das Individuum. Lindita Arapi erzählt zum ersten Mal aus Sicht einer Frau über die Frauen in ihrem Land.
BERLIN taz | Zu Zeiten von Enver Hodscha wusste kaum jemand außerhalb des Landes, was innerhalb desselben vor sich ging. Und heute interessiert es kaum jemand. Noch schlimmer ergeht es der albanischen Literatur. Wer kennt schon außer eventuell noch Ismail Kadaré, überhaupt irgendeinen albanischen Schriftsteller? Von Schriftstellerin ganz zu schweigen.
Jetzt gibt es eine, Lindita Arapi, deren Debüt „Schlüsselmädchen" zum Roman des Jahres 2011 in Albanien gewählt wurde und das kürzlich ins Deutsche übersetzt wurde. Zum ersten Mal wird hier eine Geschichte der immer noch herrschenden atavistischen Verhältnisse in Albanien erzählt, jedenfalls zum ersten Mal von einer Frau.
Es geht um Lodja, ein Mädchen bzw. eine junge Frau, deren Biographie typisch ist für den Lebenslauf albanischer Frauen. Als kleines Mädchen, so beginnt der Roman, sitzt Lodja jeden Tag am Fenster ihres Elternhauses und beobachtet die Dorffrauen beim Tratschen und Kaffeetrinken. Ihre eigene Mutter ist nie dabei. Und Lodja darf auch nicht raus. Warum, das findet sie erst viel später raus.
Als Lodja erwachsen ist, geht sie ins Ausland, um dort zu studieren, eine andere, eine offenere Welt kennenzulernen. Doch sie kehrt zurück und will endlich wissen, was da los war, in der Vergangenheit ihrer Familie und warum sie immer so komisch behandelt wurde. Sie erfährt, dass ihr Großvater während der der kommunistischen Diktatur in „Ungnade" gefallen war und damit die gesamte Familie abgestempelt und ausgeschlossen war. Das bedeutete, nicht jeden heiraten zu können, den man liebte, geringe Chancen auf ein Studium, etc., Aussätzige in einem hermetischen politischen System.
Doch auch innerhalb der Familie geht es hermetisch zu. Arapi erzählt die Familiengeschichte anhand der Frauen: Lodja, ihre Mutter Dria, ihre Großmutter Fatima. Sie sind „Profile bestimmter Zeiten" sagt die 1972 in Albanien geborene Journalistin, die heute in Bonn lebt und bei der Deuschen Welle arbeitet. Ihre Lebensgeschichten der Frauen zeigen immer wieder eines: Die Sippe, der Brauch, der Atavismus sind noch beständiger als Enver Hodschas Staat.
Arapi leistet etwas, für das Literatur auf dem Balkan immer herhalten muss, Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen. Dabei trifft ihr Roman aber mitten in einen gesellschaftlichen Wandel. Neben bildhübschen Popstars, die sich auch mal für die Rechte der Frauen stark machen, ist zwar die Parlamentspräsidentin eine Frau, es gibt auch etliche Professorinnen, aber die rurale Stammeskultur ist ein Tabuthema. Wegen der Landflucht allerdings längst auch in den Städten virulent.
Eine Frauenbewegung hat es in Albanien nie gegeben. „Die Mütter opfern sich für ihre Kinder, tun alles, damit die Mädchen es besser haben. Doch im Gegenzug fordern sie totale Gehorsamkeit und das macht das Verhältnis zwischen Tochter und Mutter in Albanien so schwierig. Das Wort Pubertät habe ich zum ersten Mal in Deutschland gehört. Mit 22 Jahren“, erzählt Arapi im Gespräch.
Hinzu komme, dass Albanien eine traumatisierte Gesellschaft sei. „Doch keiner redet darüber.“ Was sie damit meint, sind die nicht aufgearbeiteten Verbrechen des sozialistischen Staates. Albanien ist das einzige Land, das bis heute seine Akten geschlossen hält. Zwar fordern beide großen politischen Parteien permanent die Öffnung der Akten, doch keiner tut es. Arapi jedenfalls hat eine Akte geöffnet, in die nun alle Einsicht haben. Hoffentlich nützt es.
Lindita Arapi: „Schlüsselmädchen". Dittrich Verlag, Berlin 2012, 206 S., 19,80 Euro.
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