Frauen in Rente: Alte Frau, was nun?
Unsere Autorin bekommt seit Kurzem Rente und ist damit offiziell alt. Wie lässt sich auch dieser Lebensabschnitt schön gestalten?
D as Telefon klingelt. Ein Blick auf das Display. Endlich der Anruf, auf den ich seit Tagen gewartet habe. Hastig setze ich das Headset auf, ich höre eine Frauenstimme. „Guten Tag, Hoger mein Name.“ Irgendwo in Norddeutschland sitzt Frau Hoger im Homeoffice und sieht auf ihrem Bildschirm einen dürren Lebenslauf von mir, meine Erwerbsbiografie. „Sie beantragen eine Rente? Eine volle Altersrente?“ Volle Altersrente – diesen Begriff habe ich noch nicht gehört, aber ja, das ist es, was jetzt ansteht und was ich will.
Zeile um Zeile sieht Frau Hoger als Beraterin der Deutschen Rentenversicherung auf den beiden Seiten meines Versicherungsverlaufs, wann ich gejobbt und studiert habe, ins Berufsleben eingestiegen bin und gearbeitet und wie viel oder wenig ich verdient habe. Davon hängt die Höhe meiner Rente im Wesentlichen ab. Aber Rente bekommt man nicht automatisch, ich muss sie im Voraus beantragen.
Es ist Mitte März und seit Tagen mühe ich mich damit ab, den Antrag im Netz zu stellen, mit Beitrags-, Beschäftigungs- und Anrechnungszeiten und einer komplizierten Zwei-Faktor-Authentisierung, die nicht funktioniert; vermutlich, weil mein Handy dafür zu alt ist. „Ich mach das für Sie“, sagt Frau Hoger, „Ihren Rentenantrag schicke ich jetzt gleich ab.“ Ich atme auf. „Ende Juni kommt dann die erste Rentenzahlung.“ Zum Abschied wünscht sie: „Schönes Wochenende, machen Sie’s gut!“
Ein schöner Wunsch – aber wie mache ich das, wie mache ich’s gut? Ende Mai bin ich 66 Jahre alt geworden. Und damit, weil 1958 geboren, ins Rentenalter eingetreten.
Ren-ten-al-ter – ich lasse mir das Wort auf der Zunge zergehen. Dabei kommen in mir innere Bilder und Assoziationen hoch von Frauen, die morgens schon auf Parkbänken sitzen und laut, weil schwerhörig, über Krankheiten sprechen. Oder im Café sitzen, ihren Becher Kaffee in beiden Händen halten, sich zulächeln und sich über die ach so lebhaften Enkel und die Vorzüge des Reisens mit dem Wohnmobil unterhalten.
Werde ich auch so eine alte Frau?
Werde ich mit dem Empfang der vol-len Al-ters-ren-te auch so eine alte Frau? Oder tauchen diese Bilder in mir auf, weil sie mir kurzfristig psychische Entlastung gewähren? Denn von solchen Vorstellungen kann ich mich schnell distanzieren. Nein, so nicht, ich doch nicht, spricht es dann in mir. Aber die Beruhigung verfliegt schnell. Was weiß ich denn schon? Vielleicht sind die alten Frauen auf den Parkbänken und in den Cafés viel besser drauf als ich. Ich bin unsicher, was mit dem Ren-ten-ein-tritts-al-ter auf mich zukommt. Wenn die Altersrente da ist, kann ich mir nicht mehr selbst in die Tasche lügen. Jetzt ist klar: Ich gehöre zu den Alten.
Wie kann ich gut alt sein und wie gut noch älter werden? Nach dem Familien- und Berufsleben geht es jetzt darum, einen neuen Lebensabschnitt zu erkunden und ihn erfüllt zu gestalten. Und das angesichts der Unwägbarkeiten, die das Alter in sich birgt, angesichts der Verluste, die kommen werden. Da ist es gut für mich zu wissen: Ich bin nicht alleine alt, da sind Freundinnen und noch viele Frauen mehr. In Deutschland leben mehr als 13 Millionen Frauen, die 60 Jahre und älter sind. Fast ein Drittel aller Frauen hierzulande gehört zu dieser Altersgruppe.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Als alte Frauen sind wir also richtig viele. Mit mir sind zum ersten Mal auch viele Frauen in Rente, die von der Neuen Frauenbewegung geprägt und beeinflusst wurden und die Erfahrung damit haben, feste Rollenstereotype aufzuknacken. Wie können wir neue Bilder von alten Frauen erschaffen und vielfältige, interessante Lebensentwürfe für sie Wirklichkeit werden lassen? Wie können wir als Frauen gut alt sein – was können wir dafür tun und was können wir dafür lassen?
Dabei ist klar, dass es dieses „Wir“ als eine homogene Gruppe, die gleiche Lebenssituationen, Chancen und Ziele hat, nicht gibt. Denn „wir“ mehr als 13 Millionen Frauen leben unterschiedlich: mit viel oder wenig Geld, in der Stadt oder auf dem Dorf, noch recht gesund oder krank, sozial eingebunden oder einsam, in West- oder Ostdeutschland, als Deutsche mit oder ohne Migrationsgeschichte. Gemeinsam ist alten Frauen, dass sie ein schlechtes Image haben, besonders mit Blick auf ihren Körper. Dabei werden sie in den westlichen Gesellschaften ständig mit jungen Frauen verglichen und vergleichen sich auch selbst oft mit ihnen.
Während die Körper junger Frauen Anziehungskraft, Lebenslust und Freiheit verheißen, scheinen alte Frauen in unserer Gesellschaft die Vergänglichkeit und den Verlust all dieser Freuden zu verkörpern. Alte Frauen bekommen die Schablonen unattraktiv, uninteressant, grau, blass und langweilig verpasst. Natürlich wird darüber nicht offen gesprochen, deshalb hält es sich zäh. Der gesellschaftliche Code lautet: Frauen haben an ihrem Körper und ihrem Erscheinungsbild zu arbeiten, die Spuren des Alters zu kontrollieren und möglichst zu kaschieren.
Ich will diesen Code knacken
Gerne würde ich diesen Code knacken. Aber das ist schwer, es gibt mancherlei Hindernisse auf dem Weg dorthin. So wie neulich auf meinem Weg nach Hause. Gut gelaunt sitze ich auf meinem Fahrrad, ich komme vom Sportverein, freue mich schon aufs Abendbrot. Kräftig trete ich in die Pedale, biege um eine Kurve. Da kommt, direkt auf Augenhöhe, mir übergroß ein Bauch entgegen. Wohlgeformt, wohltrainiert, makellos – so klebt er auf einer Litfaßsäule. Ich fahre direkt darauf zu, ich muss da hinschauen. Und erkenne: Ach ja … das ist der Bauch von Heidi Klum. Sie modelt für Unterwäsche, trägt cremefarbenen BH und Slip mit Spitzen. Dabei schaut sie nach unten, zu ihrem Bauch. Sie bespiegelt und kontrolliert sich selbst.
Obwohl mir das Business von und mit Heidi Klum zuwider ist, weil es junge Frauen manipuliert und alte Frauen unter Stress setzt, geht jetzt das Vergleichen in mir los. Wie sieht ihr Bauch aus – wie sieht mein Bauch aus? Wie ihre Haut – wie meine Haut? Wie alt wirkt sie – wie alt wirke ich? Dieses Vergleichen sitzt tief in mir. Schon früh habe ich es von meiner Mutter gelernt und die Werbebranche setzt ständig neue Trigger. Schnell will ich jetzt an etwas anderes denken. Ich radle weiter. Aber meine gute Laune ist futsch.
Warum vergleiche ich mich überhaupt mit Heidi Klum? Sie ist 51, fünfzehn Jahre jünger als ich. Bei Vergleichen mit Jüngeren, vor allem mit Models, schneide ich als alte Frau doch immer schlecht ab, da bin ich abgehängt. Diese Einsicht ist ernüchternd, aber erfreulicherweise macht sie es einfacher für mich, inneren Abstand zu gewinnen.
Ich bin im Wesentlichen auch zufrieden mit meinem Aussehen. Auch nach der Menopause fällt es mir leicht, schlank zu bleiben. Mein Stoffwechsel funktioniert so, dass ich kaum Fett ansetze. Das ist ein Erbstück von meiner Mutter, die auch immer schlank blieb. Aber andere Erbstücke sind nicht so leicht. Ich schaue auf meine Beine. Ein dunkelblaues und lilafarbenes Adergeflecht durchzieht sie wie ein Netz, vor allem an den Oberschenkeln, um die Kniekehlen und an den Fußknöcheln.
Ich habe Besenreiser. Das sind Aussackungen der Wände von winzigen Hautvenen, Zeichen einer vererbten Bindegewebsschwäche. Früher waren meine Beine glatt, lang, wohlgeformt – und jetzt das. Auch an heißen Sommertagen trage ich seit ein paar Jahren nur noch Hosen, die mindestens die Knie bedecken. Besenreiser sind nicht gefährlich. Sie sind nur ein kosmetisches Problem und ich habe mich entschieden, keine OP oder Laserbehandlung dagegen machen zu lassen.
Schmerzen im linken Bein
Andere Alterserscheinungen sind nicht zu sehen, aber wiegen viel schwerer. Seit über einem Jahr bekomme ich erhebliche Schmerzen im linken Bein und Fuß, wenn ich längere Zeit stehe oder gehe. In der Natur unterwegs sein, ihre Vielfalt und Schönheit zu entdecken und zu bestaunen, macht mich glücklich. Aber längere Ausflüge oder gar Wanderurlaube sind jetzt gestrichen, sonst habe ich Tag und Nacht Schmerzen. Ein großer Verlust, der mich traurig macht.
Aber dann kommen meine beiden Schwestern mich besuchen. Mit Floskeln und umständlichem Gerede halten sie sich nicht auf, nicht bei mir, denn ich bin die Jüngste. „Waaas, du bist jetzt 66 und du willst dich beklagen, dass du alt bist, Falten und Besenreiser bekommst, die Beine wehtun und was sonst noch alles nicht mehr so gut läuft? Äh, wie seltsam ist das denn?“
Iris ist sechs Jahre älter als ich, hat einen Hang zur Strenge und macht keinen Hehl daraus, dass ich, egal wie alt ich bin, die kleine Schwester bleibe. „Wenn du mich anschaust …“, sie zieht ihre Stirn in steile Falten, „… ich wäre froh, wenn ich’s mal so erlebt hätte.“ Dann presst sie die Lippen zusammen und schweigt. Da ist auch Rona, zweieinhalb Jahre älter als ich. Sie hat dunkle Augen, dunkles, volles Haar, spricht melodiös und doch ruhig. „Als ich Manuel kennenlernte und ich mich zum ersten Mal wirklich geliebt fühlte … da wollte ich Kinder – und noch viel mehr. Da dachte ich, jetzt könnte das Leben anfangen, aber dann, du weißt ja …“ Ihre Stimme bricht ab.
Mir kommen die Tränen. Unweigerlich, wenn ich sie so höre. Denn die Dialoge mit meinen Schwestern finden nur noch in meinem Innern statt. Beide starben an Brustkrebs, Rona mit 38, Iris mit 61 Jahren. Als Jüngste bin ich jetzt die Älteste, ich alleine bin jetzt 66 Jahre alt und erreiche das Rentenalter. Ronas Tod liegt mittlerweile dreißig, Iris’ Tod zehn Jahre zurück, aber sie fehlen mir immer noch. Der frühe Tod meiner Schwestern ist eine große Mahnung an mich: Klage nicht über dein Alter! Sei dankbar, dass du es erreicht hast! Rona und Iris haben um ihr Leben lange gekämpft und sind gestorben, ich dagegen darf leben.
Auch wenn es sich erst mal nicht so anfühlt – Altwerden, es ist ein Privileg. Auch wenn ich auf die Lage von Frauen in anderen Ländern blicke. Als Frau im wohlhabenden Deutschland habe ich eine höhere Lebensqualität und kann damit rechnen, dreißig Jahre länger zu leben als eine Frau in Nigeria, wo die durchschnittliche Lebenserwartung 2022 nur 54 Jahre betragen hat. Das ist sehr ungerecht und vermutlich ist die Ungerechtigkeit in Wirklichkeit noch krasser.
Sterbefälle oft nicht systematisch erfasst
In schlecht entwickelten Staaten oder failed states werden Sterbefälle oft nicht systematisch erfasst und arme Frauen, ob sie leben oder sterben, zählen da kaum. Für Indien gibt die UN-Sterbestatistik an, dass Frauen ein Alter von 69,4 Jahren erreichen. Diese Zahl halte ich für zu schön, um wahr zu sein. Denn in diesem patriarchal organisierten Land mit seinem frauenverachtenden Mitgiftsystem werden Mädchen in armen Familien schlecht ernährt, erhalten kaum Bildung, müssen früh heiraten, hart schuften und bekommen nur unzureichende medizinische Versorgung.
Es ist eine politische Frage, wie alt Frauen werden: Reicht das Einkommen, um sich gut zu ernähren? Ist das Trinkwasser sauber oder schmutzig und verseucht? Bekommt eine Frau Bildung und hat sie Arbeit, von der sie leben kann? Oder muss sie ungewollt viele Kinder gebären, sich abrackern und früh verschleißen? Hat sie Zugang zu einem gut funktionierenden Gesundheitssystem? Die Lage wird sich durch die Erderhitzung vor allem für arme Menschen noch weiter verschlechtern. Aber es gibt auch Lichtblicke: Weltweit sank die Sterblichkeitsrate von Müttern kurz vor, während oder nach der Geburt eines Kindes zwischen 1990 und 2015 um 44 Prozent. Besonders Frauen im globalen Süden erlangten damit mehr Lebenschancen.
Auch wenn mir das alles bewusst ist, kann ich mein Altwerden dennoch nicht einfach unbeschwert genießen. Alte Frauen sind hierzulande belastet durch patriarchale, beschränkte Vorstellungen. Ihre Ausdrucksfähigkeit und Kompetenz werden ignoriert, sie sollen zurückhaltend sein und sich bloß nicht in den Vordergrund spielen, so lautet der Verhaltenscodex.
„Das können doch nicht die einzigen Rollen für eine Frau sein – erst Mutter, dann Oma oder dement“, empört sich die Schauspielerin Michaela May im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Zusammen mit ihren Schauspiel-Kolleginnen Jutta Speidel und Gisela Schneeberger protestiert sie dagegen, dass sie als bekannte, aber alte Schauspielerinnen – wenn überhaupt – nur noch triviale Rollen angeboten bekommen. Was da produziert werde, sei „banaler Scheiß“, sagt Gisela Schneeberger.
Frauen im Foto- und Filmgeschäft, im Theater und auf den Bühnen der öffentlichen Aufmerksamkeit werden hart daran gemessen, für wie attraktiv man sie – noch – hält. Diese Herabsetzung trifft aber nicht nur die Frauen, die da arbeiten, sondern auch die Zuschauerinnen, denen diese beschränkten, langweiligen Rollenmodelle wieder und wieder dargeboten werden. Die traditionellen Rollen für Frauen werden zementiert, Konkurrenz zwischen alten und jungen Frauen gefördert.
Auch auf Geburtstagspartys ist Diskriminierung von alten Frauen jetzt ein Thema. „Willkommen im Club!“ Wir heben die Gläser und prosten der Jüngsten von uns zu. Sie feiert ihren 60. Geburtstag. Wir sind fünf Freundinnen und kommen bei Kaffee und grünem Tee, Mandeltorte und Obstsalat auch aufs Alter zu sprechen. Die 60-Jährige lächelt etwas bange und sagt: „Na ja, das ist jetzt schon ein Ding, mit der Sechs da vorne.“ Ich nicke. Ich fand das auch ziemlich gewöhnungsbedürftig.
„Ich bleibe einfach 56. Wenn mich jemand fragt, sage ich, ich bin 56“, kontert die Älteste von uns.
„Hä?“, ich schaue sie irritiert an. Diese Freundin trägt wie jede von uns Falten im Gesicht, hat graue Haare und wird demnächst 68.
„Ich sage auch nie, dass ich schon Rente bekomme“, lässt sie uns wissen.
„Wieso denn nicht?“
Jüngere Kolleg*innen bekommen die Aufträge
Diese Freundin ist beruflich selbstständig, sie produziert Inhalte für Websites von Firmen und Organisationen. Lange und hart hat sie dafür gearbeitet, bekannt zu werden, interessante Aufträge zu erhalten und davon gut leben zu können. Einige Male sei es schon vorgekommen, so berichtet sie jetzt, dass der Kontakt zu langjährigen Kunden seltsam distanziert geworden sei. Später habe sie gesehen, dass jüngere Kolleg:innen diese Aufträge bekommen haben. Offensichtlich ist in ihrer Branche, der Kultur- und Kreativwirtschaft, nicht nur wichtig, dass die Internetpräsenz neu und frisch rüberkommt. Auch die Macher:innen sollen möglichst jung-dynamisch wirken.
„Du hast es gut“, sagt sie zu mir. „Du wirst ja nicht gesehen, wenn du einen Auftrag bekommen willst!“ Während sie den Kontakt zu ihren Kunden überwiegend analog oder per Zoom macht, schreibe ich beruflich viele Mails und telefoniere.
Echt jetzt, sehe ich schon so alt aus? Ich lache kurz auf. Aber sie hat recht: Je nachdem, wo frau arbeitet, hat sie es als „ältere Frau“, wie es schönfärberisch genannt wird, schwer oder eher leicht.
Die Diskriminierung von Frauen aufgrund ihres Alters ist ungerecht, beleidigend und verletzend. Trotzdem gibt es auch politische Fortschritte, die Hoffnung machen: Über alle Branchen hinweg ist die Erwerbstätigenquote von Frauen zwischen 55 und 64 Jahren stark gestiegen. Im Jahr 1991, bei der ersten gesamtdeutschen Erhebung, gingen nur 21,9 Prozent der älteren Frauen einer geregelten Arbeit nach, 2022 waren es 47,7 Prozent. Frauen der Altersklasse 55+ sind heute also im Beruf präsenter denn je. Diese Statistik sagt jedoch nichts darüber aus, mit welcher Qualifikation, in welcher Position und mit welcher Bezahlung die Frauen arbeiten.
Noch immer ist das Einkommen vieler alter Frauen zu niedrig. Von der Sorgearbeit, die Frauen für ihre Kinder und in der Pflege von Angehörigen leisten, profitiert die gesamte Gesellschaft, aber Unterbrechungen der Arbeit oder Teilzeitarbeit schmälern die Rente erheblich. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung verfügen Frauen im Alter heutzutage über durchschnittlich rund 1.300 Euro, während Männer eine durchschnittliche Rente von etwa 1.700 Euro beziehen. Das ergibt eine Gender-Rentenlücke von 30 Prozent. Ihre Armut, weniger ihr Aussehen, ist für viele alte Frauen das größte Problem.
Ich habe Glück, ich bin nicht von Armut betroffen und musste nicht mit Rentenbeginn einen Job suchen, damit ich über die Runden komme. Ich möchte beruflich aktiv bleiben, jetzt mit mehr Freiheit und wählerisch, welche Arbeit eine kreative, interessante Aufgabe sein könnte. Nicht nur, aber auch deshalb ist mir wichtig, dass ich mit meinen Augen gut sehen, mit dem Kopf klar denken und mich gut bewegen kann. All das ist jetzt, als alte Frau, aber nicht mehr selbstverständlich. Ich muss aufpassen. Es drohen Einbrüche.
Das Sprechzimmer meiner Ärztin dominieren glänzende weiße und graue Möbel, dazwischen an den glatten Wänden kräftig hellgrüne Streifen und Regale. Vielleicht soll dieses Grasgrün gute Stimmung verbreiten, aber die Ärztin schaut auf den Bildschirm und zieht ihre Augenbrauen zusammen. Dann dreht sie sich um, schaut mich an und sagt: „Es hat sich nicht verbessert. Es gab keine Fortschritte. Es stagniert nur.“
Seit drei Jahren nehme ich Tabletten, die diese Spezialistin für Knochenkrankheiten mir verordnet hat. Ich esse regelmäßig Käse, Joghurt und Quark, schleppe mit meinem Mann schwere Kisten mit kalziumreichem Mineralwasser ins Haus und trinke davon jeden Tag eine Flasche. Ich trainiere im Sportclub mit Hanteln und Gewichten, um meine Knochen zu fordern und zum Wachstum zu stimulieren.
Denn ich habe Osteoporose. Eine Krankheit, die vor allem Frauen nach der Menopause betrifft. Wenn im Alter deutlich weniger Östrogen im Blut fließt, verlieren ihre Knochen an Substanz und werden porös. Meine Mutter und meine Großmutter erlitten Knochenbrüche im Alter, die kaum mehr heilten, weil ihre Knochen zu stark geschädigt waren. Mama und Oma konnten nach ihren Stürzen nur noch schlecht, später gar nicht mehr gehen und wurden zu Pflegefällen.
„Wie arbeiten Sie? Im Sitzen?“
Ich nicke. Klar, sitzen gilt heutzutage als das neue Rauchen.
„Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Journalistin und Autorin.“
„Journalistin? Schreiben Sie über Osteoporose!“
„Äh … ich schreibe vor allem zu Themen aus Gesellschaft und Politik. Weniger, also eigentlich nie zu … Gesundheitsthemen.“
Ärztin empfiehlt eine neue Therapie
„Osteoporose ist ein gesellschaftliches Thema!“ Blitzschnell ist die Ärztin, und sie ist aufgebracht. „Wenn bei alten Frauen die Knochen brechen und sie dann ins Pflegeheim müssen, da kräht kein Hahn danach! Dabei kostet das die Gesellschaft Tag für Tag riesige Summen, aber da spricht keiner drüber, da wird kaum etwas gemacht! Es geht ja nur um alte Frauen!“ Sie lacht sarkastisch auf.
„Ah, verstehe“, denke ich laut. „Wenn vor allem Männer diese Krankheit hätten, gäbe es Aufklärungskampagnen und Vorsorgeuntersuchungen und …“ Die Ärztin unterbricht meine Überlegungen zum Gender Health Gap, also den Lücken in der medizinischen Versorgung aufgrund des Geschlechts: „Mit Ihrer Lendenwirbelsäule liegen sie tief im dunkelroten Bereich.“
Sie deutet auf ein Kreuz in einer farbigen Grafik, die die Ergebnisse der Messung meiner Knochendichte zeigt, die vor einer Stunde gemacht wurde. Alle gemessenen Werte, auch die von Hüfte und Unterarm, liegen im roten Bereich. „Wir müssen hier mal richtig Gas geben“, sagt die Ärztin und empfiehlt eine neue Therapie.
Seit einem halben Jahr gebe ich mir nun täglich vor dem Schlafengehen eine Spritze in den Bauch. Das Medikament greift tief in den Knochenstoffwechsel ein. Seine Wirkstoffe sind so empfindlich, dass das Medikament durchgehend gekühlt werden muss. Auch wenn ich auf Reisen bin. Jetzt kann ich nur noch dorthin fahren, wo ich einen Kühlschrank vorfinde.
Das ist eine Einschränkung. Wirklich hinderlich ist jedoch, dass für meine Weiter- oder Rückreise die Elemente einer Kühlbox stets frisch gefrostet sein müssen. Vor jeder Fahrt mit Übernachtung, ob beruflich oder privat, muss ich nun also fragen, ob ich Zugang zu einem Tiefkühlfach bekommen könnte. Meine Krankheit einer fremden Person am Telefon erklären zu müssen und Umstände zu machen, löst in mir das Gefühl aus, schlagartig um Jahre gealtert zu sein.
Aber ich bin auch froh, dass es diesen medizinischen Fortschritt gibt und dass ich das teure Medikament nicht selbst bezahlen muss, sondern die Krankenkasse die Kosten trägt. Schätzungsweise haben acht Millionen Menschen in Deutschland Osteoporose. Der Dachverband der Selbsthilfegruppen geht davon aus, dass circa 30 Prozent der über 65-jährigen Frauen an einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit leiden. Da sind die Knochen schon so geschädigt, dass sie bei einem eigentlich harmlosen Stolpern oder ganz ohne äußerlichen Anlass zusammenbrechen. Davor möchte ich mich bewahren. Die aufwändige Osteoporose-Therapie betrachte ich als eine Investition in meine Zukunft als alte Frau.
Mit der Rente nehme ich mir jetzt mehr Zeit und Raum für das, was mir wohltut. Morgens gönne ich mir einen Gang durch den Garten, hole Pfefferminz, Zitronenmelisse und Salbei für einen frischen Tee, bereite ein leckeres Frühstück. Mit Kräutertee, Kaffee und einem gut gefüllten Frühstücksteller setze ich mich auf die Holzterrasse am Gartenteich und genieße den Blick aufs Wasser. Das Schilfrohr wiegt im Wind, die Wasserschwertlilien blühen strahlend gelb und manchmal quakt der Frosch. Wandertouren kann ich leider nicht mehr machen, aber den Garten und seine Schönheit kann ich genießen.
Als mein Mann und ich vor drei Jahren in einer harten Ehekrise feststeckten, suchten wir schließlich Hilfe bei einem Paartherapeuten. Er unterstützte uns, aufmerksamer füreinander zu werden und unsere Kommunikation zu verbessern. Aber der Alltag hat seine Tücken, er spült das Gewohnte wieder hoch. Freilich nur bei meinem Partner. Der sieht das genauso, nur eben andersherum. Da bin ich’s, die es schon wieder verpatzt.
Als alte Frau und alter Mann aber sind wir genervt und auch gelangweilt von den Dramen, die wir da aufführen und schon sattsam kennen. Denn im Alter taucht die Frage auf: Wie will ich die begrenzte Lebenszeit mit meinem Partner verbringen? Deshalb gönnen wir uns jetzt den Beziehungscoach. Circa alle sechs Wochen sind wir bei dem Psychologen, der sich auskennt mit unseren Beziehungsmustern. Die regelmäßigen Check-ups machen uns immer wieder frisch und offen füreinander. Sie tun unserer Liebe gut. Günstig, dass jetzt „E-de-Ka“ ist.
Wir zwinkern uns zu, wenn wir dieses Wort sagen und nicht den nächstgelegenen Supermarkt meinen. Erfunden hatte „E-de-Ka“ mein Mann, als er vor vier Jahren in Rente ging, es bedeutet: Ende der Karriere. Langfristige berufliche Pläne muss auch ich jetzt nicht mehr verfolgen. Manchmal rufen unsere Tochter oder unser Sohn an und erzählen, was sie machen, was sie bewegt und wie arbeitsintensiv und stressig das oft ist – der Einstieg in den Beruf bei ihr, das anspruchsvolle Masterstudium bei ihm. Als Mutter bekomme ich dann sorgenvolle Gefühle. Als alte Frau aber bin ich erleichtert. Wie gut, dass ich mir diesen Stress nicht mehr machen muss.
Weil ich jetzt frisch Rente beziehe, taucht auch der Gedanke auf, dass sie den letzten Lebensabschnitt einläutet. Auf meiner Suche nach Vorbildern begegnet mir Maria. Sie sitzt am Montagabend rechts neben dem Leiter der Gruppe, die sich seit vielen Jahren zum Meditieren trifft. Maria ist schwerhörig und möchte keines der inspirierenden Worte verpassen, die er vor dem gemeinsamen Schweigen spricht. Sie kommt mit dem Bus und trägt am Jackenärmel die gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten.
Manchmal, nach der Meditation, erzählt Maria, was sie als über 90-Jährige erlebt. Sie berichtet von langen Spaziergängen im Norden der Stadt. Mitunter findet sie dann nicht mehr den Weg zurück. Ich würde mich hilflos und angstvoll fühlen, aber Maria wartet ruhig, bis jemand kommt, der sie unterstützt. „Diese Menschen haben darauf bestanden, mich bis vor meine Haustür zu bringen. Das wäre doch nicht nötig gewesen“, meint sie danach.
Maria war Krankenschwester, auch in leitenden Funktionen, immer in katholischen Häusern. Als sehr alte Frau lebt sie möglichst selbstständig, aber wenn sie Hilfe braucht, zeigt sie das offen. Sie hat Mut, ist zuversichtlich und vertraut auf die guten Eigenschaften beim Nächsten. Ihre Haltung zum Leben als alte Frau finde ich stark.
Auf einem Spaziergang setze ich mich auf einer Parkbank neben sie, lege meinen Arm um ihre Schultern. Sie stockt: „Ich hätte ja nicht gedacht, dass du dich so dicht neben mich setzt … neben mich alte Frau.“
„Ist doch schön so!“
„Ich wollte ja schon etwas wegrücken, aber … wenn du meinst.“ Sie neigt ihren Kopf zu meiner Schulter, schmiegt sich an. Ich spüre ihre Wärme und Weichheit und auch die Festigkeit, die in ihr wohnt. Sie ist großartig darin, die schönen Stunden zu genießen und die schweren hinzunehmen, ohne in Klagen zu verfallen. Ihre zunehmende Erblindung akzeptiert sie als Teil ihres Lebens. Diese Hingabe an das Leben, auch wenn es langsam zu Ende geht, beeindruckt mich. Ich habe Zweifel, ob ich das so schaffe. Aber versuchen will ich es.
Zuletzt muss Maria ins Pflegeheim ziehen. Sie ist vollständig erblindet und könnte in ihrer Wohnung jederzeit stürzen. Ich besuche sie. Wir sitzen in der Cafeteria des Heimes, ich habe Kuchen mitgebracht. „Oh, Pflaumenkuchen, der schmeckt aber gut!“, sagt sie und isst mit Genuss ein ganzes Stück. Wir wissen beide, dass dieses Heim die letzte Station auf ihrem Lebensweg ist. Ich druckse herum, frage schließlich: „Hast du dich hier mittlerweile eingelebt?“ Maria senkt ihren Kopf, spricht etwas nach unten, aber deutlich: „Ich lebe mich hier ein und ich lebe mich hier aus.“ Wenig später stehen wir auf, gehen in die Hauskapelle und meditieren zusammen. Alles Wesentliche ist gesagt, wir können ruhig schweigen.
Jetzt ist Maria eine meiner Freund:innen im Himmel. Ich glaube nicht an ein Weiterleben nach dem Tod. Aber ich mag das Bild, dass die, die mir vorausgegangen sind, liebevoll auf meinen Weg schauen.
In der kommenden Woche habe ich einen Termin beim Orthopäden. Dann erfahre ich endlich die Ergebnisse des MRT, das vor sieben Wochen von meinem linken Fuß gemacht wurde. Vielleicht gibt es Aufschluss darüber, woher die Schmerzen dort kommen. Eine Entzündung? Oder wieder kein Befund, der sie erklären kann? Ich bin angespannt und unsicher, was auf mich zukommt. Aber dann erinnere ich mich an mein Vorbild, hebe den Kopf, schaue zum Himmel: Maria hilf!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert