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Frauen in AfghanistanIm Stich gelassen

Corona dominiert wieder die Nachrichten, das Schicksal der Frauen aus und in Afghanistan ist in den Hintergrund geraten. Eine Fluchtgeschichte.

Kein großes Nachrichtenthema mehr: Frauen stehen in Kabul für Essen beim World Food Program an Foto: Petros Giannakouris/ap

D as ist mein letztes Schlagloch für dieses Jahr. Es geht zu Ende, als hätte die Pandemie gestern begonnen. Täglich werden im Radio die neuen Inzidenzen durchgegeben, wird die Zahl der Toten gemeldet. Leben retten als Wert zivilisierter Länder.

Doch es gibt Leben, das bei uns geringen Nachrichtenwert hat. Angenommen, die „Tagesschau“ würde eine Woche lang jeden Tag die Zahl der Toten an Europas Grenzen melden. Jeden Tag ein Bericht über das Schicksal der Frauen in oder aus Afghanistan. Nach dem medialen Aufschrei im August kämpfen die meisten jetzt im Stillen. Ich möchte das Wort Frauen überlassen, die Frauen aus Afghanistan retten: Monika Hauser und Sybille Fezer von Medica Mondiale. Ich weiß, die taz ist nicht Pro7 und wir haben keine Reichweite wie Joko & Klaas, aber ich weiß, das Schlagloch hat Leser_innen, die das noch immer interessiert:

Maryam* blickt ins Dezembergrau, auf eine Tankstelle und einen Supermarkt. Müde Augen. Nach vielen zermürbenden Wochen der Flucht ist die 42-Jährige mit Mann und zwei Töchtern im Taunus gelandet. Noch vor einem halben Jahr hat sie als Anwältin eine 12-Jährige verteidigt, die wegen sogenannter moralischer Verbrechen im Gefängnis saß: Sie war vor der Zwangsverheiratung mit einem 60-Jährigen davongelaufen. Maryam erwirkt, dass es einen Prozess gibt. Dem Richter erklärt sie dabei die afghanische Gesetzgebung: Laut dem Gewaltschutzgesetz von 2008 ist die Verheiratung Minderjähriger verboten.

Bild: Dorothee Piroelle
Jagoda Marinić

ist Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg und ist Mitglied des PEN-Zentrums. Ihr letztes Buch, „Sheroes. Neue Hel­d*in­nen braucht das Land“, erschien 2019.

Jahrelang schulte Maryam Justizpersonal. Sie wollte nicht nur Gesetze verbessern, sondern auch das Bewusstsein ändern. Als feministische Anwältin hat sie es immer wieder geschafft, mithilfe des Gewaltschutzgesetzes, an dessen Formulierung sie mitgewirkt hatte, Frauen und Mädchen aus den Gefängnissen freizubekommen. Viele Täter wurden rechtskräftig verurteilt.

Zwar war ihr klar, dass die Gelder der internationalen Geber vor allem eigenen neoliberalen Interessen dienten, aber so konnte sie dafür sorgen, dass Frauenrechte auch in ihrem Land endlich umgesetzt werden. Dabei lebte sie mit Anfeindungen und realen Bedrohungen. Sie lernte, mit diesen Widerständen umzugehen – ihr unbedingter Wille war es, eine Gesellschaft mit aufzubauen, in der Menschenrechte respektiert werden und Frauen vor Gewalt geschützt sind. Sehr klug nutzte sie dafür die neuen Gesetze – oder auch den Koran.

Der 15. August veränderte alles

Der 15. August verändert alles, und Frauen wie sie werden zu den größten Staatsfeinden. Es folgen Monate in unterschiedlichen Verstecken und Unterkünften, Drohanrufe der Taliban, näher rückende Hausdurchsuchungen, die Sperrung ihres Bankkontos. Vor die Tür nur noch vollverschleiert und in Begleitung des Ehemanns. Wohnen auf engstem Raum. Die Mädchen verängstigt und oft wie erstarrt – zur Schule können sie nicht mehr.

Der erste Fluchtversuch, die Evakuierung über den Flughafen Ende August – an den Toren gescheitert: Stundenlanges Warten im Minibus, aufgeheizte Stimmung draußen, Schüsse. Die Listen, die dort ausliegen sollen, mit ihrem Namen, dem Ticket nach Deutschland, liegen nicht vor. Die Tore bleiben zu. Knapp entkommen: Später explodiert eine Bombe des IS vor dem Flughafen.

Dann neue Fluchtwege und monatelanger Transit, ein Labyrinth aus immer neuen bürokratischen Hindernissen: Banges Warten auf die schriftliche Aufnahmezusage der Bundesregierung. Konsularische Vertretung Deutschlands nur in den Nachbarländern; ohne Pass und Visa keine Ausreise dorthin. Das heißt: Visa für alle besorgen, kaum sind sie da, ist der Pass der Tochter nicht mehr gültig. IS-Anschlag auf das Passbüro: wochenlang geschlossen. Evakuierungslisten, auf denen Maryam und ihre Familie stehen und wieder runtergenommen werden („Liste“ sollte das (Un)wort des Jahres sein, nicht Wellenbrecher!). Ein Versuch, über den Landweg nach Pakistan einzureisen, scheitert: wieder kein Durchkommen.

Politische Absprachen zwischen Pakistan und Deutschland ändern sich fast wöchentlich; wir müssen die Abläufe permanent anpassen. Schließlich, wo Politik scheitert, ist es die Zivilgesellschaft, die handelt: Mit den Ak­ti­vis­t_in­nen von Kabul Luftbrücke und ihrem Netzwerk gelingt die Flucht nach Pakistan. Angekommen in Deutschland, nach der Gemeinschaftsunterkunft nun in einer kleinen Wohnung. „Zum ersten Mal spielen die Mädchen wieder, stundenlang“, erzählt sie uns beim Tee.

Der Freude über die gelungene Flucht folgt tiefe Trauer: über den Kampf für eine gerechtere Gesellschaft, der jäh beendet wurde, über Familienmitglieder und Freundinnen, die zurückgeblieben sind; ein Land, in dem Willkür herrscht und Hungersnot; Frauen und Mädchen, die nicht fliehen können, ein Leben als respektierte Anwältin, das zu Ende ist, eine Heimat, die sie vielleicht nie wieder sehen wird.

Besonderes Weihnachtsgeschenk

Und gleichzeitig bleibt sie Aktivistin, arbeitet nun gemeinsam mit uns dafür, weitere Kol­le­g_in­nen bei der Flucht zu unterstützen. Und so bekamen wir alle am 24. Dezember mittags noch ein besonderes Weihnachtsgeschenk: Die beiden jungen Kolleginnen Hamida* und Masiha* passieren mit ihren zwei Kleinkindern und Ehemännern bei Torkham die Grenze nach Pakistan und werden dort von Kabul Luftbrücke in Empfang genommen.

Sie lassen das Chaos, den Hungerwinter, die erneute Rechtlosigkeit der Frauen und Mädchen und eine ungewisse Zukunft ihrer Heimat zurück – und die vielen Menschen, die vor Ort weiterhin um ihr Leben bangen und auf eine sichere Ausreise hoffen. Wir sind froh, es geschafft zu haben, Maryam, Hamida, Masiha und viele andere darin zu unterstützen, in Sicherheit zu kommen. Doch sie sollten alle nicht hier sein, sie sollten zu Hause weiter für die Rechte der Frauen kämpfen können – das ist ihnen unmöglich gemacht worden durch eine völlig falsche Politik des Westens, die in erster Linie die eigenen Interessen verfolgt und die afghanische Bevölkerung verraten hat.

* Namen geändert

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