Frauen auf der Flucht vor Gewalt: Die eigenen Ressourcen stärken

Die Hälfte der Geflüchteten weltweit sind Frauen, viele fliehen vor geschlechts-spezifischer Gewalt. Dieser sind sie auch auf der Flucht ausgesetzt.

Viele Frauen fliehen wegen erlittener Gewalt – doch auch die Flucht birgt Gefahren. Foto: picture alliance/dpa | Socrates Baltagiannis

Hadiya kennt ihr Heimatland nur im Krieg. Als sie 1994 zur Welt kam, hatte Somalia bereits keine funktionierende Regierung mehr. Der Bürgerkrieg bestimmte ihr Leben und das ihrer Familie im Südwesten des Landes. Als ihr Mann starb, wusste sie nicht mehr, wie sie ihre beiden kleinen Söhne ernähren sollte, und wählte als letzten Ausweg die Flucht ins Ausland.

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Doch über die Zeit im Auffanglager in Libyen und die weitere Flucht über Italien bis nach Deutschland spricht sie nicht. Die Angst vor Vergewaltigung und Zwangsprostitution war auf allen Stationen der Flucht ihr ständiger Begleiter. Dass die radikale Genitalbeschneidung, bei der ihr als 7-Jährige alle äußeren Genitalen entfernt und sie bis auf eine kleine Öffnung zugenäht wurde, in Europa als grausame Form von Gewalt gilt, wusste sie nicht – für sie war das „normal“. Heute ist sie froh, Söhne zu haben, denen eine Genitalverstümmelung erspart bleiben wird. Vor den Geburten wurde Hadiya aufgeschnitten, danach aufs Neue zugenäht. Chronische Schmerzen gehören seither zu ihrem Alltag.

Viele Frauen erwähnen die erlittenen Gewalttaten nicht

Für die Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sind solche Berichte nichts Ungewöhnliches. Eigens geschulte Mit­ar­bei­te­r:in­nen sollen gezielt nach solchen Gewalttaten fragen, weil die Frauen selbst sie oft nicht erwähnen – aus Scham oder eben weil sie das grausame Prozedere, wie Hadiya, für normal halten. Viele der Frauen, die zur Anhörung zum Bamf kommen, haben die rechtlose Position in einer patriarchalischen Gesellschaft längst verinnerlicht.

Frauen sind von Krisen und Gewalt oft auf eine andere Art betroffen als Männer. Geschlechtsspezifische Fluchtgründe sind beispielsweise Vergewaltigung, Zwangsehe, drohende genitale Verstümmelung, Ehrenmord. Neben Gewalterfahrungen im häuslichen Umfeld gibt es noch eine weitere extreme Gefahr für Frauen in Krisen- und Kriegsgebieten: die sexualisierte Kriegsgewalt.

In patriarchalen Gesellschaften dienen systematische Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen im Kriegsfall der Demütigung des Gegners – er wird gleichsam erniedrigt, weil er „seine“ Frauen nicht schützen kann. Die taktische Gewalt zielt darauf ab, den Gegner zu zermürben, oder dient in manchen Fällen der ethnischen Vertreibung, wie beispielsweise in den 1990er Jahren in der Kriegsdynamik im westlichen Balkan. Möglichkeiten für die Opfer, solche Traumata zu verarbeiten, gibt es in ihrer Heimat meist nicht; in vielen Ländern sind die Frauen durch die Gewalterfahrung stigmatisiert, gelten als schmutzig und als unliebsame Erinnerungen an den Krieg.

Die Angst bleibt der ständige Begleiter

Die Flucht als letzter Ausweg führt in vielen Fällen die Spirale der Gewalt fort. Die meisten Frauen sind allein mit ihren Kindern unterwegs. Gewalttätige Schlepper, sexualisierte Gewalt durch flüchtende Männer, Grenzbeamte und -soldaten, Menschenhandel und Zwangsprostitution – die Angst bleibt der ständige Begleiter. Und sie verlässt viele Frauen auch nach geglückter Flucht nicht. Auch in Flüchtlingslagern ist sexualisierte Gewalt keine Seltenheit.

Cornelia Grothe ist Geschäftsführerin der Frauenrechtsorganisation Amica, die international tätig ist und mit Partnerorganisationen die Lebenssituation der Frauen in den jeweiligen Ländern stärkt, unter anderem im Libanon. In diesem Land, in dem Frauenrechte durch patriarchalische Normvorstellungen und unterschiedliche Personenstandgesetze unterdrückt werden, sind gerade auch geflüchtete Frauen betroffen. „Im Libanon leben sehr viele Menschen, die aus Syrien geflohen sind“, erläutert Grothe.

Diese Frauen seien extrem bedroht: Da es keine offiziellen Flüchtlingscamps gibt, verpachten viele Einheimische ihre Ländereien, um darauf private Auffanglager zu errichten. „In diesem Kontext kann es zum sogenannten Survival Sex kommen“, so Grothe. „Die Frauen bezahlen mit ihrem Körper für diese zweifelhafte Zuflucht.“ Sehr oft sind Kinder mit im Spiel, sodass den Frauen kaum eine andere Wahl bleibt.

Sexualisierte Übergriffe an der Tagesordnung

Überfüllte Lager und Unterkünfte, Leben auf engstem Raum, traumatisierte Menschen – unter diesen Bedingungen ist es schwer, Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Das gilt auch für Flüchtlingslager in Europa. Sexualisierte Übergriffe waren im griechischen Lager Moria an der Tagesordnung. Und auch in Unterkünften in Deutschland gibt es immer wieder Berichte über Gewalt an Frauen.

Viele Frauen, die nach Deutschland geflüchtet sind, haben geschlechtsspezifische Gewalt erlebt. Neben traumatischen Erfahrungen vor und während der Flucht können beispielsweise auch die aufenthaltsrechtliche Lage, unsichere Zukunftsperspektiven oder die Unterbringungssituation in Sammelunterkünften Traumata potenziell verstärken und negative Auswirkungen auf die psychosoziale Gesundheit haben. Hinzu kommt, dass die Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Erfahrungen von Selbstwirksamkeit für viele geflüchtete Frauen häufig eingeschränkt sind.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband unterstützt geflüchtete Frauen seit vielen Jahren. Bundesweit bieten seine Organisationen psychosoziale und therapeutische Versorgung an und fördern die Betroffenen durch Beratung und Empowerment-Arbeit. „Das stabilisiert die geflüchteten Frauen und unterstützt sie dabei, die eigenen Ressourcen zu stärken“, erläutert Susann Thiel, Referentin für Flüchtlingspolitik beim Paritätischen Gesamtverband.

Insbesondere der Zugang zur medizinischen und zur psychosozialen Versorgung sei für geflüchtete Menschen häufig stark eingeschränkt: „Es ist daher wichtig, dass alle Schutzsuchenden endlich den uneingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten und es langfristig eine nachhaltige Finanzierung von stärkenden Angeboten für diese Zielgruppe gibt.“ Die Mitgliedsorganisationen des Verbands versuchen, vor Ort durch ihre Angebote den Zugang zu Informationen und zur Versorgung herzustellen. Das Ziel: „Wir möchten den geflüchteten Frauen durch unsere Arbeit das Gefühl der Hilflosigkeit zu nehmen.“

Dieser Text erscheint im taz Thema Weltflüchtlingstag, Ausgabe Juni 2022. Redaktion: Ole Schulz. Frühere Ausgaben des taz Themas Weltflüchtlingstag können Sie hier nachlesen.