Frankfurter Buchmesse 2020: Von wegen forever young
Ella Carina Werners 33 Kurzgeschichten erzählen humorvoll aus dem Leben von Frauen ab 40. Es geht um Tanten, Onkel und das Matriarchat.
![Autorin Ella Carina Werner. Autorin Ella Carina Werner.](https://taz.de/picture/4431823/14/ella-carina-werner-buch-der-untergang-des-abendkleides-1.jpeg)
Es gibt Superfruits zum Frühstück, Luftbefeuchter für die Atemwege und Joggingstrecken bis in den Tod. In den Gegenwartsanalysen der letzten Jahre lässt sich hier und da immer wieder lesen, wie jung wir uns alle fühlen und auch bleiben. 40 ist das neue 30! Diese „Forever young“-Fantasien raubt Ella Carina Werner ihren Leser*innen gleich zu Beginn ihres neuen Buchs „Der Untergang des Abendkleides“.
Ella Carina Werner: „Der Untergang des Abendkleides“. Satyr Verlag, Berlin 2020, 172 Seiten, 18 Euro
In der ersten von 33 Kurzgeschichten wird die Protagonistin 40 Jahre alt und kann der ganzen Sache durchaus ein paar Vorteile abgewinnen. Als Frau könne man sich ab 40 Bleistifte oder ganze Schokoriegel unter die Brüste klemmen (praktisch!) und endlich in Ruhe träumen, da niemand mehr rufe: „Ja geil, mach das doch! Die Welt steht dir offen!“ Vielmehr stehe einem die Welt überhaupt nicht mehr offen: „Das ist das Gute. Das nimmt den Druck raus, entspannt.“ Und: „Mit vierzig darf man Dinge verniedlichen.“
Ella Carina Werner selbst findet vieles niedlich, blickt dennoch sehr genau auf sich und ihre Mitmenschen, mit Liebe und Spürsinn für Dissonanzen in ihrer Umgebung. Ein wiederkehrendes Motiv sind die Betrachtungen von Personen, die „eigentlich ganz anders“ sind. Etwa eine Tante, die in der S-Bahn ohne Fahrschein erwischt wird.
Den Fehler gibt sie nicht zu, erklärt dem Kontrolleur stattdessen, warum ihr das gar nicht passieren könne: „Jetzt schauen Sie mich einmal an. Ich bin eine Frau. Ich bin über sechzig. Ich trage handgenähte Pumps. Ich bin das Gegenteil eines klassischen Schwarzfahrers. Ich bin Lehrerin. Pensionierte Gymnasiallehrerin, Deutsch und Latein. Ego in finem!“
Furios auch der Onkel, der mitten in einem Restaurant wortreich das Patriarchat beendet, seine Nichte dabei nicht zu Wort kommen lässt, sie zu mehr Eigenständigkeit ermahnt und sie am Ende nicht die Rechnung zahlen lässt.
Aber wie könnte das Matriarchat aussehen? Die Antwort gibt es ein paar Seiten früher schon: „In den Chefetagen sitzen viele hoch qualifizierte Frauen. Und viele unqualifizierte, das ist wichtig, ja besonders viele von den unqualifizierten, historische Gerechtigkeit muss sein.“ Der Humor funktioniert, weil er die eigene Lebenswelt auf die Schippe nimmt, aber sich nicht einfach darüber lustig macht – sondern überdreht, was da ist.
Eigene Lebenswelt auf die Schippe nehmen
Die neuen Geschichten handeln von feministischen Themen: gleichberechtigte Partnerschaft, Kinder, Menopause, Körperbehaarung und Feminismus an und für sich. Aktuelle Debatten wie zum Beispiel über Intersektionalität fehlen allerdings und mit fortgeschrittener Lektüre des Buches wird das Fehlen zu einer manifesten Leerstelle.
Wie weiße Frauen klug und humoristisch mit den eigenen Ausschlussmechanismen umgehen können, scheint noch ein nicht bestelltes Feld zu sein. Dabei wäre Ella Carina Werner auf jeden Fall eine heiße Kandidatin dafür, eine Sprache zu finden, die sich nicht in Stereotypen verfängt, die zusammenbringt und trotzdem stachelig ist.
Ella Carina Werner ist die Tochter einer Bauchtänzerin, ganz im Ernst. Darüber schrieb sie 2012 in ihrem Roman „Die mit dem Bauch tanzt“. Es ist die Geschichte einer Frau, die Ende der Achtziger in Ostwestfalen beschließt, als „Shahzadi“ zu tanzen. Nach und nach wird die ganze Familie eingebunden. Aus heutiger Perspektive würde das wohl als kulturelle Aneignung gelten.
Der Vater, in der Bauchtanzwelt der Mutter als „Mustafa“ auftretend, ist Psychologe. Beide Eltern beeinflussen sicherlich den spezifischen Werner-Stil: sich selbst nicht allzu ernst nehmen, das Gegenüber nicht mit Witz zerstören, sondern in liebevollen Wendungen entkleiden, quasi mit Blicken sezieren.
Werner hat eine sehr gute Menschenkenntnis. Tiefe Einsichten in die Träume und Tiefen ihrer Mitmenschen konnte sie gewinnen mit dem Band „Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen“. 2014 veröffentlichte sie diesen zusammen mit Nadine Wedel, es ist eine Sammlung aus alten Tagebucheinträgen von Freund*innen und Bekannten.
Auch hier ist das Leitmotiv: über sich selbst lachen können. Die tägliche Fingerübung dafür ermöglicht Werner ihre Arbeit als Redakteurin des Satiremagazins Titanic. Ihre Texte erschienen außerdem in Missy Magazine, FAZ und Zeit Online. Und auch für die Wahrheit der taz schreibt die freie Autorin regelmäßig.
Drei Freundinnen im Tretbot
„Der Untergang des Abendkleides“ ist ein wunderbar kurzweiliger Erzählband. Er kommt gerade recht zum Corona-Herbst, der mancher Geschichte noch einen besonderen Spin gibt.
Zum Beispiel der von drei Freundinnen in einem Tretboot. Sie fragen sich, wer wohl als Erste von den anderen gegessen werden müsste, würden sie auf einer einsamen Insel stranden. In Coronazeiten hieße das: Wer ist systemrelevant? Lisa: „Ich bin wertvoll. Ich bin Steuerklasse 1.“ Kirsten: „Ich habe die meisten Kinder.“ Ella: „Na gut, nehmt mich. Aber bitte ohne Barbecue-Soße.“
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