Fragwürdiger Aufess-Zwang: Fluglärm am Soßencrash
Kaum ein sinnloserer Erziehungsbefehl wie der des Tellerauskratzens spukt durch deutsche Speisezimmer. Dabei nimmt er die Lust am Essen.
E ssen ist an sich schon schwer genug. Sie kennen das Flugzeug? Ja, genau, das! Das – brumm, brumm! – direkt in Ihren Mund fliegt. Muund aaaauuuf! Und jetzt überlegen Sie mal: Wie viele Male verfehlte es sein Ziel? Verunfallte krachend? Eben.
Sie essen also, heute, erwachsen, mal so richtig gemütlich, und zwar ein herzhaftes, sagen wir mal, Knoblauchsoufflé mit Klößen, ganz feine Aromentextur, handgestrickt, einfach klasse, und glauben schon, am Horizont Ihrer Gedanken dieses Flugzeug zu sehen – nein, nicht die Gabel mit Essen drauf –; sondern ein anderes, das nur ganz selten mal vorbeifliegt. Eines, das hinten so eine Banderole durch die Luft zieht: „Einer der wenigen Momente wahren Glücks in Ihrem Leben zieht gerade vor Ihren Augen vorbei. Genießen Sie ihn – mit einem cremig-leichten Bitburger Pink Gin Sahnejoghurt Pils!“
Aber: nichts mit Genuss. Pustekuchen, wie der Bäcker ulkt. „Da ist noch was auf deinem Teller“, stößt der Sitznachbar aus. „Kratz doch noch die Reste zusammen! Hier wird nichts verschwendet!“ Ob das auch die Verantwortlichen nach einem Flugzeugunfall sagen?
Nun ist korrektes Benehmen als Erwachsener selbstverständlich, Sauberkeit unabdingbar. Subjekt, Prädikat, Objekt; Gabel, Löffel, Messer. Ein sehr gutes Knoblauchsoufflé darf man ausnahmsweise auch mal mit den Flossen essen. Flossen: So heißen spezielle Verzehrbestecke aus Kiefernholz, die zu besonders gelungenem Knoblauchsoufflé gereicht werden.
Doch Sauberkeit gilt auch im Mund. Ich esse, was dort reingehört. Was gegessen werden will. Wenn etwas lieber auf dem Teller bleiben mag, dann bleibt es da auch.
Die deutsche Unart Soße gehört in die vorderste Anklagefront. Noch die herzensbeste Großmutter zeigt ihr wahres Gesicht, wenn sie ein Essen, als ginge es um einen Acker, „zu trocken“ schimpft und mit noch mal einem halben Liter dickflüssigem, braunem oder weißem Schleim ersäuft. Erwartbar, dass auch nach einer Viertelstunde Einverleibungskampf noch der Teller „schwimmt“. Rettungsringe werden feierlich überreicht: Brot, Kartoffeln, gebackene Eichhörnchen. Nun folgt der abstoßendste Teil der Prozedur: das „Tunken“. Kein Zufall, dass Kinder ihr allschwimmbadliches Waterboarding genau so nennen.
Ich weiß, was jetzt kommt, aber: In einem Land, in dem sogar die Parkplätze Parkplätze haben, trägt das zwanghafte Restereinstopfen beim besten Willen nicht zum Klimaschutz bei. Es bereitet vielmehr Missmut, und das ist schlecht für die Revolution. Stattdessen sollten wir öfter mal das Flugzeug am Boden stehen lassen – und zu Fuß gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund