Fotografin Ute Mahler über Frauenbilder: „Damit wir ohne Posen auskommen“
Die Fotos von Ute Mahler prägen bis heute das Bild vom Alltag in der DDR und der Frau in Ostdeutschland. Ein Gespräch über ihre Arbeit – und Selfies.
Das rostbraune Haus der Mahlers nördlich von Berlin ist von außen eher unauffällig, aber selbst gebaut. Ute und Werner Mahler sind seit über 40 Jahren ein Paar, ihre Bilder der DDR sind ikonisch, 1990 gründeten sie mit Kolleg*innen Ostkreuz, heute die erfolgreichste von Fotograf*innen selbst geführte Bildagentur in Deutschland. Das Haus haben sie 1978 gebaut, fast nebenan wuchs Ute Mahler auf. Die Straße runter liegt der Lehnitzsee. Während des Gesprächs legt sich die Dunkelheit über das Tagesgrau, die grüne Emaillelampe über dem Küchentisch hängt tief. Ab und zu lugt Kater Onkel Wanja über die Tischkante. Er schläft auf einem Stuhl und trägt die vermutlich längsten Barthaare der Katzenwelt.
taz: Frau Mahler, wenn ich Fotografien von Ihnen oder Helga Paris aus der DDR anschaue oder Filme von Helke Misselwitz, dann sehe ich die Frauen darin an und denke: Ich kenne die alle. Wie kann das sein?
Ute Mahler: Vielleicht, weil Sie eine direkte Begegnung erleben. Die Frauen schauen nicht die Kamera an, sondern die Fotografin. Das tun sie mit Offenheit, manchmal auch mit einer Härte, manchmal mit einer Weichheit – eben wie in einer direkten Begegnung. Die Frauen lassen zu, dass die Fotografin eine persönliche, private Seite von ihnen sieht. Es gibt keine Distanz zur Kamera. Vielleicht kommt daher das Gefühl, man kenne sie.
Ich dachte, es könnte daran liegen, dass eine Ostdeutsche auf eine DDR-Bürgerin schaut, dass das wie ein sentimentaler Ostblick ist.
Nein, das hat mit den Fotografinnen zu tun. In den offiziellen Illustrierten wie Für Dich oder NBI gab es auch Darstellungen von Frauen, aber die gehen einem selten nahe. Die hatten eine Intention und sollten „unsere Frauen“ mit einem gewissen Optimismus zeigen. Wenn Helke Misselwitz die Arbeiterinnen in ihren Filmen zeigt, bekommen sie eine Persönlichkeit. Da sieht jede Frau anders aus. Sie darf individuell sein.
Gibt es das, einen ostdeutschen Blick?
Das würde ich nicht sagen. Aber es gibt eine ostdeutsche Fotografie. Es gab eine große Gruppe von Fotografinnen und Fotografen in der DDR, die ganz bewusst versucht haben, das Land abzubilden, so wie sie es erlebt haben. Im Verband Bildender Künstler gab es in der Sektion Fotografie verschiedene Strömungen. Einige haben angestellt journalistisch gearbeitet, andere künstlerisch frei und wieder andere haben freischaffend dokumentarisch fotografiert, wie unter anderem Arno Fischer, Sibylle Bergmann, Roger Melis, Werner Mahler und ich. Uns alle hat verbunden, dass wir etwas abbilden wollten, was sich vom offiziellen Bild unterscheidet. Es gab eine reichhaltige, wirklich gute DDR-Fotografie. Nach 1990 lässt sich das nicht mehr so genau sagen. Die Themen und die Ästhetik veränderten sich. Die Gesellschaft war eine andere mit anderen Problematiken, da reagiert man anders.
War sie so anders? Sie haben 1992 in Rostock-Lichtenhagen fotografiert, Rechtsradikale gab es in der DDR doch auch schon in den 80er-Jahren.
Nicht in dieser Dreistigkeit, wie sie sich in den 90ern im Straßenbild zu erkennen gegeben haben. Hier draußen in Lehnitz war das vor 1990 kein Thema. Mich haben die rechten Tendenzen bei Jugendlichen schon überrascht. Sehen konnte man die natürlich in den Fotografien von Harald Hauswald, der war mitten in Berlin. Aber auch diese Bilder habe ich erst nach 1990 gesehen. Für mich war das überraschend und Rostock war kaum zu glauben.
Sind Sie deshalb hingefahren?
Ich bin da nicht freiwillig hin, so mutig bin ich nicht. Ich wollte eigentlich gerade eine freie Arbeit über Obdachlose in Pankow anfangen, als der Stern mich in der Suppenküche dort anrief und fragte, ob ich nach Rostock fahren kann. Mich hat wirklich überrascht, dass die Leute auf den ersten Blick ganz normale Leute waren. Die Aggressivität war eher im Gesichtsausdruck und in der Körpersprache erkennbar, nicht in der Kleidung. Ich musste mich überwinden zu fotografieren, aber ich wollte natürlich auch die Bilder. Ich dachte: Das muss man zeigen. Ich fotografiere auch, um zu verstehen.
Sie haben ein Jahr später eine Reportage über den Berliner Neonazi „Bomber“ fotografiert – haben Sie danach verstehen können?
Nein, ich verstehe es bis heute nicht. Natürlich kenne ich die ganzen Hintergründe: Arbeitslosigkeit, Schulungsvideos von rechten Parteien, in denen Hass verbreitet wird und vorher als Einstieg noch eine Stripteasenummer läuft. Das ist wirklich unglaublich. Aber das Wissen, warum jemand da reingerutscht ist, darf bei meinen Fotos keine Rolle spielen. Da muss man einfach schauen, was ist. Und dann mache ich ein Foto davon. Manchmal wurde ich zusammengeschrien bei Situationen, die ich ganz harmlos fand. Und dann bei anderen Situationen dachte ich, dass ich richtig Ärger kriege, wenn ich jetzt abdrücke – und dann war nichts. Ich konnte nicht begreifen, welche Reaktion worauf kommt.
Wann waren Sie besonders nah an Bomber dran?
Wichtig ist mir diese Aufnahme mit seinen zwei Kindern bei der Geburtstagsfeier. Das ist kein tolles Bild, keine große fotografische Leistung. Aber was ist denn eigentlich eine fotografische Leistung? Bomber, der äußerst aggressiv sein konnte, wirkt auf dem Bild wie ein netter Familienvater, und ich frage mich, was wird aus diesen Kindern? Auch deshalb ist das ein wichtiges Bild für mich.
Einer Ihrer Meisterschüler hat mir erzählt, eine typische Formulierung von Ihnen sei: „Gutes Bild, keine Frage, aber: Wir wollen ja nicht gut sein, wir wollen sehr gut sein.“ Sind Sie jemals ganz zufrieden?
Doch, es gibt so Momente, in denen ich denke: Ja, hier habe ich das bekommen, was ich wirklich erlebt habe und was ich festhalten wollte. Fotografie ist Festhalten im Moment. Und im Idealfall sagt das Bild mehr, als es der Moment kann. Bei jeder neuen Arbeit brauche ich einen zeitlichen Abstand, damit ich mir wirklich sicher bin.
Die Fotografin
1949 im thüringischen Berka geboren, studierte Ute Mahler an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Fotografie. Seit 1974 ist sie als selbstständige Fotografin tätig. Sie arbeitete unter anderem für die legendäre Modezeitschrift Sibylle,nach der Wende auch für den Stern.
Die Professorin
Mahler lehrte von 2000 bis zu ihrer Emeritierung 2015 Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg. Bis heute ist sie Dozentin an der Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin und hat eben ihre letzte Meisterklasse verabschiedet.
Woher wissen Sie, wann Sie ein gutes Bild haben? Gerade bei der analogen Fotografie können Sie doch nicht gleich das Ergebnis Ihrer Arbeit kontrollieren.
Man spürt das. Ich fotografiere zwar auch digital, aber nicht meine Themen. Beim Digitalen vertraut man viel schneller dem Ergebnis, der Technik. Das Analoge zwingt einen, sich noch mehr auf das Motiv einzulassen, weil du es nicht sofort überprüfen kannst. Bei einem Porträt lässt du dich in der Regel auf jemanden ein und dann passiert etwas zwischen zwei Leuten. Nach zehn Minuten kann das wieder vorbei sein. Bei der Serie „Monalisen der Vorstädte“ ist Werner und mir das mit den Frauen so gegangen.
Für dieses Projekt haben Sie gemeinsam in einem Zeitraum von drei Jahren junge Frauen in Liverpool, Minsk, Florenz, Reykjavik und Berlin fotografiert.
Was da zwischen zwei Fotografen und den jungen Frauen entstanden ist, haben wir so intensiv noch nicht erlebt. Das war magisch. Ich brauche wirklich dieses völlige Einlassen auf den Moment.
Sie sind ursprünglich in Berka geboren, in Thüringen, und von dort dann mit 14 Jahren weg. Fast 60 Jahre später beschäftigen Sie sich nun fotografisch mit Ihrem Heimatort. Wie kam es dazu?
Ich hatte jedenfalls nicht das Bedürfnis, auf den Spuren meiner Kindheit zu wandeln. Die Idee kam über das Arbeiten im Archiv: Mein Vater hatte in den 50er- und 60er-Jahren dort fotografiert. Er war Müller und hat sich das Fotografieren autodidaktisch beigebracht. Da sind großartige Bilder entstanden, die so viel von dem Leben in dem Dorf erzählen. Und dann gibt es die Arbeit von Werner, von Ende der 70er über Berka, seine Diplomarbeit. In den 90er-Jahren hat Werner den Ort noch mal fotografiert. Nach acht, neun Jahren Bundesrepublik war das schon ein neues Dorf. Mir ging irgendwann nicht mehr aus dem Kopf, dass man diese Arbeiten doch zusammenführen müsse. Also habe ich gesagt: Werner, wollen wir nicht zusammen jetzt noch mal da fotografieren? Wie bei den Monalisen? Und dann hat er gesagt: Das ist jetzt dein Ding. Und da hat er recht.
Welche Bedeutung hat Berka für Sie?
Berka ist für mich Heimat. Diese Landschaft mit den sanften Hügeln. Das ist nicht dunkler Thüringer Wald, sondern lichtes, gewölbtes Gebirge. Und dann eben ganz pur Natur. Das sind Gerüche, das sind bestimmte Pflanzen, Beeren oder Pilze, von denen ich genau wusste, wann die wachsen und wo sie wachsen, und von denen ich mir immer welche nach Hause geholt habe. Ich bin immer am Wochenende mit meiner Großmutter oder meiner Tante Concordia auf den Berg gegangen und wir haben etwas gefunden.
Sie sind in Berka in einer Mühle aufgewachsen, die Ihr Vater betrieben hat.
Ja, aber mein Vater wollte Anfang der 60er nur Fotograf sein, deshalb sind wir 1964 nach Lehnitz gezogen, also Richtung Berlin. Mein Großvater hat die Mühle weiterbetrieben, bis er nicht mehr konnte und die Großeltern zu uns kamen. Die Mühle behielten wir aber, weil die für die Familie ganz wichtig war. Meine Großeltern waren viel im Sommer da. Auch wir sind bis auf ein Mal wirklich jeden Sommer in den Ferien nach Thüringen gefahren. Wir hatten die Mühle ganz wunderbar eingerichtet. Jedes Zimmer hatte eine andere Farbe. Ich habe dort viele Modeserien für die Sibylle fotografiert.
Und heute?
Nach der Wende gab es die ersten Einbrüche und Zerstörungen. Schränke wurden umgeschmissen. Vorher war nie was. In den 90er-Jahren hat mein Vater die Mühle dann verkauft. Vorher hatte er mich und meine Brüder gefragt, ob wir das wollen. Aber wir wollten damals alle lieber in die Toskana. Heute wohnt da jemand drin und ich konnte lange Zeit gar nicht daran vorbeigehen. Wenn ich das jetzt mache, rege ich mich darüber auf, wie es aussieht. Es sind einfach die falschen Türen und die falschen Fenster! Aber auf der anderen Seite sind es eben die Türen, die die Leute wollen.
Man geht weg und will, dass alles so bleibt, wie es war.
Ja, und das geht gar nicht! Man kann nicht von anderen erwarten, dass sie das genauso weiterführen, wie man es selbst gerne hätte.
Ist Berka für Sie DDR?
Ja, klar. Meine intensivsten Erfahrungen im Ort waren vor 1989. Jetzt erst verändert sich langsam mein Bild von Berka. Ich fotografiere dort seit dem Frühjahr des letzten Jahres und ich sehe den Ort anders als vorher.
Was sehen Sie?
Mein altes Berka-Bild finde ich hauptsächlich in der Landschaft. Ich staune über die Veränderungen. Das Dorf ist sehr schick geworden. Früher hatte es nicht wirklich ein Gesicht, es war nicht so ein Fachwerkdorf, wie man sich das in Thüringen vorstellt. Der Ort funktionierte irgendwie, aber es war nicht vordergründig schön. Jetzt will jedes Haus schöner sein als das andere. Und also wirklich, der Wettbewerb ist groß mit den glatten Hausfassaden und den Farben. Und dadurch wird es so ein bisschen austauschbar.
Und tut das ein bisschen weh?
Nein. Ich staune nur, was es alles im Baumarkt gibt. Die Häuser haben nichts mehr mit mir zu tun. Aber die Leute sind ganz toll. Es macht Spaß, sie wiederzutreffen und wieder mit ihnen im Dialekt zu reden und mich wieder zu erinnern. Die kennen mich immer noch. Ich habe noch nie so leicht Zugang gekriegt, um im Wohnzimmer zu sein oder eine Verabredung zu treffen.
Wie bekommen Sie es eigentlich hin, dass die Leute vor Ihrer Kamera nicht verkrampfen?
Ich erkläre Ihnen, was ich mache und warum ich das mache und warum ich sie jetzt fotografieren möchte. Das geht nicht ganz schnell, es dauert, damit wir ohne diese Posen auskommen. Meine Erfahrung ist, wenn man etwas wirklich begründen kann, dann kann der andere auch viel mehr damit anfangen.
Sie haben 2003, nach dem Tod Ihres Vaters Ludwig Schirmer, seine Bilder von Berka posthum veröffentlicht. Es sind feine Fotografien vom Leben in Ihrer Heimat. Bekannt wurde Ihr Vater aber als Werbefotograf in der DDR. Was haben Sie gelernt von ihm?
Gelernt habe ich wenig von ihm. Alles, was er gemacht hat, fand ich nicht gut und ich wollte immer das Gegenteil machen. Ich wollte immer das wirkliche Leben zeigen, das Echte, ganz intensiv. Und das war natürlich die Reaktion auf die Werbefotos, die mein Vater gemacht hat, die ja alle inszeniert waren.
Dabei ist ja auch das Dokumentarische nicht objektiv …
Klar, das ist total subjektiv! Allein schon der Ausschnitt ist eine Entscheidung, wie ich Wirklichkeit zeige. Wenn ich diesen Ausschnitt wähle, erzähle ich was anderes, als wenn ich jenen Ausschnitt wähle. Und trotzdem ist es die gleiche Situation. Es ist ein Teil der Realität, so wie ich sie in dem Moment gesehen habe. Aber es ist nicht die pure Realität.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Sie haben 20 Jahre lang Fotografie unterrichtet. Einen Ihrer vielen Meisterschüler habe ich vorhin schon zitiert. Ein anderer hat Sie als Dirigentin bezeichnet, so würden Sie aussehen, wenn Sie eine Bilderserie editieren. Heißt Fotografin sein, zu sortieren?
Ich habe immer in Themen gearbeitet, nicht in Einzelbildern. Es gibt natürlich das gut komponierte Einzelbild, aber ich will dann wissen: Was ist das nächste Bild? Für mich sind Fotoserien wie Musik. Wenn man Bilder zusammenfügt, ergibt das eine Melodie. Manchmal singe ich auch die Töne. Ich kann gar nicht singen, aber ich versuche damit deutlich zu machen, dass es wichtig ist, ob man jetzt ein Thema wiederholt oder ob man ausschert, ob man ruhig wird und ob man jetzt das Tempo erhöht. Und so beeinflussen die Bilder sich und werden stärker miteinander.
Mittlerweile hat jede*r im Telefon eine Kamera, es gibt Fotografie en masse. Ist das schlecht für die Fotografie?
Wenn es eine Masse von wirklich guten Bildern geben würde, wäre das toll! Aber sie sind nicht alle gut. Bei der digitalen gilt das gleiche Prinzip wie bei der analogen Fotografie: Man muss Entscheidungen treffen und nicht die vielen Möglichkeiten im Hinterkopf haben.
Über junge Leute sagt man ja, sie könnten sich nicht entscheiden. Ist das etwas, was Sie auch bei den Fotografieschüler*innen erleben?
Ja! Ein typischer Satz ist: Aber das ist doch auch ganz schön. Und dann frage ich: Warum? Das persönliche Erlebnis beim Fotografieren darf nicht die Entscheidung beeinflussen, was ein gutes Bild ist oder nicht. Dazu braucht man Abstand. Aber das lernen die Studierenden, die sich dreieinhalb Jahre intensiv mit Bildern beschäftigen. Bei anderen sehen sie das auch sofort, nur bei sich selbst nicht gleich. Das ist auch schwierig. Man muss sich entscheiden und man muss sich auch trauen, eine Haltung zu zeigen, die man zu einem Thema oder zu einer Person hat.
Was haben Sie von Ihren Schüler*innen gelernt?
Mich beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit manche sich selbst zum Thema machen. Vor allem, wenn sie etwas Ehrliches von sich erzählen und sie tolle Bilder gemacht haben. Wenn die Geschichte so viel Potenz hat, dass sie auch etwas Allgemeines erzählt, dann ist das auch richtig. Andernfalls ist es wie eine Therapie: für die Leute selbst gut, aber nicht für andere relevant.
Haben Sie schon mal ein Selfie gemacht?
Manchmal überrede ich Werner zu einem Selfie, wenn ich mich an das gemeinsame Erlebnis erinnern möchte. Von mir allein mache ich keine Selfies.
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