Fotobuch über Trümmer in der Ex-DDR: Ankündigung des sozial Abgebrühten
Arwed Messmer fotografierte Trümmerlandschaften in Ostdeutschland. In seinem Buch deuten sie eine ebenso rauhe Geschichte wie Gegenwart an.
![Statische Sicht auf das Betongerippe des einstigen Palast der Republik in Berlin, 2007 Statische Sicht auf das Betongerippe des einstigen Palast der Republik in Berlin, 2007](https://taz.de/picture/6692080/14/157-AM-TvR-2zu1-12-12-2023-1.jpeg)
Von sich aus bedeuten Ruinen nichts. Man muss sie als Zeichen entschlüsseln. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme schrieb über sie: „Die prekäre Balance der noch sichtbaren Formbestimmtheit und der noch nicht endgültigen Formauflösung der Ruinen prädestiniert sie dazu, zur stummen Zeichensprache der Geschichte zu werden.“
In Ruinen können Modi der Zeit zusammenfallen. Wenn der Fotograf Arwed Messmer seinem kürzlich erschienenen Bildband den Titel „Tiefenenttrümmerung“ gibt, geht damit das Gefühl einer Bereinigung einher – allerdings zugunsten einer düsteren Perspektive. Trümmer sind Ruinen im fortgeschrittenen Stadium der Auflösung. Sie zerfallen endgültig, gehen in Landschaft über, wirken aber, kann man mit Blick auf Messmers Arbeiten vermuten, lange nach. Erst wenn sie abgeräumt werden, verschwinden sie als Zeichenarchiv.
Arwed Messmer, geboren 1964 in Schopfheim, untersucht vor allem Archive. Er montiert neu, bringt Zeitschichten ans Tageslicht. Entlang der Geschichte von Orten hat Messmer auch eine Gestaltwerdung der bundesrepublikanischen Gegenwart gesucht.
Dafür hat er nun sein eigenes Archiv ausgewertet – und festgestellt, dass er mit der Kamera zum Ende der DDR noch immer präsente Bruchteile des Nationalsozialismus einfing und bauliche Reinigungsmaßnahmen dokumentierte, die vielleicht den Auftritt einer sozial abgebrühten, unempathischen Gegenwart ankündigen.
Raketentechnologie im Stollensystem
Messmers Archiv beginnt mit einer Reihe Aufnahmen, die er als „Suche“ überschreibt. In der Rückschau sind die Orte, die Messmer (als eisenbahnbegeisterter Jugendlicher, als Studierender, als ausgebildeter Fotograf) besuchte, nicht zufällig gewählt. Sondern politisch konnotiert: Messmer besuchte das ehemalige Heeresversuchsanlage in Peenemünde und Niedersachswerfen. Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges wurde hier Raketentechnologie entwickelt und in einem Stollensystem zusammengebaut, militärisches Sperrgebiet blieb es bis 1990.
![Gäste auf einem Sandberg bei der Grundsteinlegung des Hotel Adlon in Berlin Mitte Gäste auf einem Sandberg bei der Grundsteinlegung des Hotel Adlon in Berlin Mitte](https://taz.de/picture/6692080/14/139-AM-TvR-12-12-2023-3.jpeg)
Das Seebad Bansin bei Wolgast hatte der Gauleiter von Pommern als erstes für „judenfrei“ erklärt. Der Brocken war 1990 noch mit Betonelementen „Mauer 75“ bewehrt, von hier lauschten Rote Armee und das MfS nach Westen. Nach der Wende baute die sowjetische Armee neue Stacheldrahtzäune gegen staunende Tagesausflügler und blieb bis 1994. Ums Feuer in Questenberg standen zu Pfingsten 1991 neue und alte Nazis.
Die Bildstrecken liegen im Buch als Kontaktabzüge wie Flöze übereinander: Der Trainspotter Arwed Messmer suchte nach Lokomotiven aus der Baureihe 52, ab 1942 in hoher Stückzahl gebaut. Sie wurden vor Deportationszüge für Konzentrationslager gespannt, waren in der DDR bis 1980 im Einsatz. Entlang der Kontaktstreifen folgen wir dem Versiegen des kalten Krieges: Panzer bei Prora und Denkmäler für Kriegstote überlagern sich, wir streifen durch vernarbte, leergezogenen, aber noch nicht abgerissene Altbauten in Leipzig.
Die Bildstrecken bestehen aus Schnappschüssen, sicher schon komponierte Aufnahmen, aber vor allem Dokumente einer konzeptionell unfertigen, nervösen Suche, die den Umbruch erfassen will.
Im zweiten Kapitel, „Nullpunkt“ wird die Bildsprache ruhiger, der Ausschnitt weiter. Messmer begibt sich auf die Spur einer Gewaltgeschichte: Hitlers Reichskanzlei, gemauerte Fundamente, Stahlbeton, im Weltkrieg zerbombt, überpflügt, versunken. Aufnahmen öffnen sich zu erschütternden Panoramen, sorgfältig komponiert unter ausdruckslosem Hilla-und-Bernd-Becher-Himmel.
Vernutzte Orte
Wenn man sich die Aufnahmen länger anschaut, kann man meinen, dass auf den Trümmern die Stadt nicht zusammenwüchse: Obenauf nachlässige Teerflächen, Pflaster und Bodenplatten, neu und schon vergammelt. Obsolete Betonpfeiler sind widerborstig, ringsum macht sich allenfalls breit, was man Ruderalvegetation nennt: Struppige Pflanzen, die es an diesen vernutzten Orten aushalten.
Wo einmal das große Kaufhaus Wertheim stand und im Krieg beschädigt wurde, wollte die DDR Plattenbaureihen errichten. Kam nicht voran. Bis 2005 stand dann der Tresor hier, vereinte Hedonisten Ost wie West, lockte Touristen aus aller Welt: Ein Technoclub.
Arwed Messmer: „Tiefenenttrümmerung. Der Traum vom Reich“, Spector Books, Leipzig 2023, 163 Seiten, 60 Euro.
Das dritte, umfangreichste Kapitel heißt „Übergang“ – es beobachtet Stadt und Land beim Verdauen und Neuausrichten: Reste von Industrie, Trümmer werden weggeschafft, Plattenbauten abgerissen. Messmer schaut auf Berlin, streift durch Ostdeutschland – Zustände in Westberlin und Westdeutschland hat er in anderen Arbeiten untersucht. Seine Aufnahmen erzählen auch von der Absage an Verantwortung, vom Rückzug des Staates: Metallschrott liegt am Rande eines LPG-Geländes, neben stillgelegten Gleisen. Soll doch wer anders den Müll wegräumen.
![Schwarz-weiße Sicht auf zwei alte Backsteinscheunen im Schnee Schwarz-weiße Sicht auf zwei alte Backsteinscheunen im Schnee](https://taz.de/picture/6692080/14/121-AM-TvR-2zu1-12-12-2023-2.jpeg)
Aus den Bildern spricht viel Empathielosigkeit, ein Schulterzucken über Historie und Kultur: Die großformatige Industrielandwirtschaft kümmert die Umweltzerstörung nicht, die sie verursachte. Die Häuserzeilen von Landarbeitern sind zu Wohnbehältnissen degradiert. Der Kulturpalast zeigt große Geste mit mickriger Zufahrt.
Enttrümmerung beseitigt Erinnerung
Messmers Blick auf Berlin und Ostdeutschland vermittelt bereits eine Renitenz, die sich bald breitmachen wird: Während in Städten noch DDR-Moderne abgerissen wird, wachsen schon investorenkalte Häuser. Kapitalertragsästhetik drängt dazwischen, neue Balkone verkünden Miethöhen. Das Leben auf dem Land, ahnen wir, wird den Anschluss verpassen.
Die Enttrümmerung beseitigt Erinnerung. Im neuen, geographischen Mittelpunkt eines Deutschlands nach 1990 pflanzte die thüringische Gemeinde Niederdorla einen Baum. „Traum vom Reich“, hat Arwed Messmer seinen Bildband unterschrieben. Wenn die dunkle Teile der Vergangenheit beseitigt sind, scheint es, als könnte die Tür zur Nostalgie aufgestoßen werden. Potsdam wird zum preußischen Disneyland verkitscht, in Berlin wird ein Schloss gebaut. Der Baum in Niederdorla ist eine Kaiserlinde.
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