Fotobuch über Flüchtlingslager: Europas vergessene Kinder
Die Fotografin Alea Horst fuhr zu den Flüchtlingslagern auf Lesbos. Über die dort lebenden Kinder hat sie ein eindrucksvolles Buch gemacht.
Ja, muss das sein? Eine Fotodokumentation aus den Flüchtlingslagern auf Lesbos für Kinder? Haben die denn nicht schon genug damit zu tun, ihre Corona- und Klimakrisenangst zu bewältigen? Das werden die erwartbaren Reaktionen vieler Erwachsener auf dieses Buch sein. Zu denen gehöre ich nicht. Deshalb fange ich noch mal anders an.
Zeitgenössische Kinder sind mit einem Bewusstsein für Krisen geboren. Es ist wohl niemandem gelungen, sie gänzlich vor unbehaglichen Wahrheiten zu schützen. Ich kann mich erinnern, wie einige Eltern versucht haben, das Foto mit dem toten Flüchtlingsjungen am Strand vor ihren Kindern zu verbergen. Diese Eltern müssen vor dem Buch „Manchmal male ich ein Haus für uns – Europas vergessene Kinder“ von Alea Horst und Mehrdad Zaeri keine Angst haben, denn es zeigt lebende Kinder, wie wir sie uns trotz aller Informationen nicht vorgestellt haben. Kinder wie unsere.
Die Fotografin Alea Horst hat eine Fotodokumentation mit berührenden Kinderbildern aus den Flüchtlingslagern auf Lesbos gemacht. Ergänzend zu den Fotos hat sie die Kinder interviewt, so dass die aussagestarken Gesichter auch eine Stimme bekommen. Sie erzählen von ihren Lebenswegen, ihren Situationen im Lager und ihren Hoffnungen. Sie erzählen einfach, klar und deutlich. Jeder Mensch kann sie verstehen, egal wie alt, und das Ungeheuerliche erfassen, an dem sich ihre kindliche Arglosigkeit abarbeiten muss.
Während das neue Lager, das nach dem Brand von Moria errichtet wurde, aus der Luftperspektive sauber und ordentlich aussieht, stellt es sich in den Interviews anders dar. Verdreckte und zu wenige Toiletten, nur kaltes Wasser, selten Strom, verdorbenes Essen, matschige Wege und steiniger, unebener Boden, auf dem geschlafen werden soll. Die Zelte sind überbelegt, die Planen flattern im dauernden Wind und machen Lärm, das angsteinflößende Meer ist sehr dicht.
Alea Horst und Mehrdad Zaeri: „Manchmal male ich ein Haus für uns – Europas vergessene Kinder“. Klett Kinderbuch, Leipzig 2022, 80 S., 16,50 Euro
Das neue Lager ist abgeriegelt, es dürfen keine Helfer mehr rein, dementsprechend gibt es keine Angebote mehr für die Kinder, von Schule ganz zu schweigen. Von den Kindern kommt eigentlich immer die Frage nach dem Warum. Sie wissen nicht, dass Griechenland hier exemplarische Abschreckung betreibt, dass sie Geiseln sind. Und dass Europa damit einverstanden ist.
Das Engagement wurde zur Profession
Alea Horst begann als erfolgreiche Familien-, Hochzeits- und Sozialfotografin, die die Menschen empathisch und authentisch abbildete und die die Freude, die Rührung und die Emotionalität der Augenblicke sichtbar machte. Bis sie 2016 die Berichte über die ankommenden Flüchtlinge in Griechenland nicht mehr aushielt.
Es hatte sich ein schlechtes Gewissen angestaut, weil sie aus Angst vor dem Unbekannten das aus ihrer Sicht Notwendige nicht tat. Sie nahm sich ein Herz und ging als Helferin nach Lesbos. Mittlerweile ist ihr Engagement zur Profession geworden. Neben ihren Hilfseinsätzen hat sie den Verein Alea e. V. gegründet, der Hilfsprojekte, Aufklärung und Zukunftsbildung betreibt. Und sie dokumentiert weiter Lebensfreude, Hoffnung und Emotionalität – nur in schlimmen Verhältnissen.
Auf die außergewöhnlichen Fotos von Alea Horst wurde der Klett Kinderbuchverlag aufmerksam und bat die Fotografin, den abgebildeten Kindern ein paar Fragen zu stellen, um daraus ein Sachbuch zu machen. Alea Horst fuhr zurück nach Lesbos, um genau das zu tun. Doch war es mittlerweile schwierig, überhaupt noch das Lager betreten zu dürfen. Fotografieren war bereits völlig verboten.
Für Erwachsene beschämend
Mit Sondererlaubnissen gelang es ihr, wenigstens mit ein paar Kindern zu sprechen. Die Antworten, die sie bekam, sind so realitätsnah und reflektiert, dass man keine Möglichkeit hat, sich vor ihnen zu verstecken oder sich von ihnen zu distanzieren. Sie kommen von Herzen und treffen voll ins Herz. Für Erwachsene ist das beschämend, für Kinder verständlich.
Die im Buch abgedruckten Texte sind lediglich Auszüge aus den geführten Interviews. Die Auswahl entspricht einer kindgerechten Interpretation, in der nicht nur die miserablen Lebensumstände und traumatischen Erlebnisse der Kinder, sondern auch Zuversicht und Hoffnung zum Ausdruck kommen. Die ungekürzten Interviews finden sich zum Nachlesen auf der Webseite des Verlags. Vorsorglich sind sie mit einer Triggerwarnung versehen, die wahrscheinlich vor allem der Befindlichkeit besorgter Erwachsener Rechnung trägt. Vielleicht sogar jener Erwachsener, die sich in der Buchhandlung gern schon mal über die Altersempfehlung hinwegsetzen, weil der eigene Spross vermeintlich weiter sei als der Durchschnitt. Das vorliegende Buch jedenfalls hat die Altersempfehlung ab 8 Jahren.
Es ist nicht verwunderlich, dass sich auch Schulen an dem Buch interessiert zeigen. Der Lehrplanreflex und das adulte schlechte Gewissen ordnen es allerdings eher in den Klassenstufen 5 und 6 ein, wo es in Fächern wie Politik, Geschichte oder Ethik einen Platz finden kann. Diesem Interesse will der Klett Kinderbuchverlag mit pädagogischem Begleitmaterial nachkommen, das bereits in Arbeit ist.
Gespür dafür, was fehlt
Ein besonderes Highlight des Buches sind die kleinen Zeichnungen von Mehrdad Zaeri. Der Künstler, der selbst 1985 als Flüchtling aus dem Iran nach Deutschland kam, entdeckte in den Aussagen der Kinder als allumgreifendes Thema „Zuhause“, schmuggelte in alle seine Vignetten ein Häusermotiv und beeinflusste damit maßgeblich den Titel des Buches. Seine Bilder lockern die Anordnung – Text auf der linken Seite, Foto auf der rechten Seite – spielerisch auf. Und erinnern so daran, dass es sich wirklich um Kinderschicksale handelt, um Kinder ohne Kindheit.
Monika Osberghaus, die Verlagsleiterin von Klett Kinderbuch, hatte ein gutes Gespür dafür, was auf dem Kinderbuchmarkt fehlt: realistische, ehrliche Berichterstattung über eine Krise, die so unsäglich ist, dass wir Erwachsene sie gerne verdrängen. Wir empfinden unser schlechtes Gewissen als so belastend, dass wir es unseren Kindern gern ersparen wollen. Dabei haben Kinder angesichts des Elends kein schlechtes Gewissen. Warum auch, sie sind ja keine Akteure in dem Setting, das dieses Elend kreiert. Sie haben aber sehr wohl ein Gewissen und ein Problembewusstsein. Ahnungslosigkeit ist ein schlechter Zustand, um Probleme zu lösen. In jedem Alter.
Insofern ist das Buch ein Mehrgenerationenbuch, auch wenn es Erwachsene gefühlsmäßig mehr am Schlafittchen packt als die Zielgruppe. Während sich die Kinder informieren und sehr wahrscheinlich über die Ausweglosigkeit wundern, können die Eltern sich mit ihren Skrupeln und Ausflüchten auseinandersetzen. Und sich in der Kommunikation mit den Kindern über das Buch geschlagen geben. Es gibt einfach keine Rechtfertigung dafür, wie die Flüchtlinge behandelt werden. Und etwa die Hälfte davon sind Kinder.
Aktionswoche in Leipzig
Flankiert wird das Buch von vier Wanderausstellungen. Die UNO-Flüchtlingshilfe empfiehlt das Buch nicht nur ausdrücklich mit seinem Logo auf der letzten Seite des Buches, sondern finanziert auch zwei dieser Ausstellungen, die in Schulen, Sparkassen, Bibliotheken und anderen öffentlichen Räumen gezeigt werden sollen. Zwei Ausstellungen stemmt der Verlag selber und spricht damit die Buchhändler an. Außerdem wird es im KuB Leipzig eine Aktionswoche geben (31. 5. bis 5. 6.), die unter dem Titel „Was können wir tun?“ abendliche Podien mit Gerhard Trabert, Alea Horst und Hilfsorganisationen anbieten wird.
Schließlich wird es Stände von Initiativen geben, einen Speakers Corner, an dem auch Geflüchtete zu Wort kommen sollen, Lesungen für Klassen und den vielbeachteten Tütenmarkt des Verlags, auf dem vergriffene Bücher verramscht werden und dessen Einnahmen in den Verein Alea e. V. fließen.
All dies ist möglich, weil der Klett Kinderbuchverlag im letzten Jahr den „Deutschen Verlagspreis für unabhängige Verlage“ gewonnen hat. Genauer gesagt einen von drei Sonderpreisen für herausragende Verlagsarbeit, dotiert mit 60.000 Euro. Dieses Geld lässt der Verlag direkt wieder in engagierte Projekte zurückfließen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!