Fotoausstellung in den Hamburger Deichtorhallen: Bilder, die aus der Welt fallen
Es gibt doch noch Überraschungen in der Fotogeschichte: Die Hamburger Deichtorhallen entdecken den Japaner Kiyoshi Suzuki und verlassen damit den breiten Weg des Mainstreams.
Die Kupferschale mit den falschen Wimpern der Schwester, die weißen Zähne des von Kohlenstaub bedeckten Bergarbeiters, die Erschöpfung einer namenlosen Zirkusballerina, eine Straßenszene im Vorübergehen: Diese intimen Bilder waren nie für die große Präsentation an der Wand gedacht. So ist die erste deutsche Retrospektive des japanischen Fotografen Kiyoshi Suzuki eigentlich ein Paradox.
Doch mit Hilfe der Töchter des im Jahre 2000 verstorbenen Künstlers ist eine für eine Fotoausstellung ungewöhnliche Inszenierung gelungen. Im zentralen, 240 Quadratmeter großen Raum der südlichen Deichtorhalle stehen vor sieben Wänden sieben Lesetische mit je einem Buch zum Blättern. Denn das zentrale Werk des Japaners sind jene sieben, zwischen 1972 und 1998 selbstpublizierten, inzwischen längst vergriffenen Fotobücher.
Sie erzählen nicht linear und für die damalige Zeit in gewagtem Layout intensive, aber fremdartig-subjektive Bildgeschichten. Weitgehend in schwarz-weiß behandeln sie die Suche nach den Erinnerungen der Kindheit im Bezirk Fukushima, eine Reise zu den heiligen Sadhus Indiens oder die Träume von einem nostalgischen Südostasien im Geiste der in Vietnam geborenen französischen Schriftstellerin und Regisseurin Marguerite Duras.
Das Werk von Kiyoshi Suzuki wurde durch den Kurator Machiel Botman nach Europa gebracht und bisher erst einmal gezeigt: In der niederländischen "Stichting Fotografie Noorderlicht" in Groningen. Mit der Präsentation eines außerhalb Japans bisher weitgehend Unbekannten wagt das Hamburger "Haus der Photographie" gleich im Anschluss an die mit 27.000 Besuchern so populäre Ausstellung "Traumfrauen", den breiten Weg des Mainstreams zu verlassen. Außer den Büchern und den kollagierten, lange überarbeiteten und abgegriffenen Dummys dazu sind rund 160, fast ausschließlich schwarz-weiße Vintage-Prints zu sehen.
Über eine ganze Wand sind die Bilder aus dem Buch "Mind Games" inszeniert. Sie schildern eine fremde Welt - fremd nicht, weil es sich um Japan handelt, sondern da sie überwiegend unbestimmte, provisorische Situationen zeigen. Die vorübergehenden Freuden eines Wanderzirkusses sind ebenso brüchig wie die glücklichen Momente eines freiwillig Obdachlosen, mit dem sich der Fotograf anfreundete.
Menschen und Dinge sind ein wenig aus der Welt gefallen, ja sogar aus dem Bildausschnitt, der die traditionelle Ordnung der Fotografie nicht mehr beachtet. Kiyoshi Suzuki zieht in seinen radikal subjektiven Bildern die Außenseiter in seine Welt, macht sie mit viel Sympathie zu Akteuren seiner Lebensfantasie, in der auch eine kränkelnde Topfpflanze in einem alten Kochgeschirr Platz hat. Erst in der Zusammenführung als Buch oder in der eigenen subjektiven Zusammenschau erschließt sich die Möglichkeit einer Geschichte.
Der Satz, hinter den tiefschwarzen Partien eines Bildes stünde ein nicht mehr abbildbares Geheimnis, ist bei diesen dunklen Bildern wirklich zutreffend. Manche Einzelfotos verbergen ihre Bedeutung ähnlich einer Maske im No-Theater, die den Ausdruck der Gefühle nicht unmittelbar zulässt. Spezifisch asiatisch scheint auch die mehrdeutige Lesbarkeit der Bilder, sind dort doch schon die Schriftzeichen poetisch und mehrdeutig interpretierbar. So sind auch die wenigen Namen der Bildreihen - die einzelnen Fotos sind unbetitelt - nicht eindeutig ins Deutsche zu übersetzen. "Soul and Soul", der Titel der aktuellen Ausstellung, stammt von Kiyoshi Suzukis erstem Projekt Ende der Sechzigerjahre. In Japanisch lautet er "Nagare No Uta", was auch anders etwa als "Lied vom Wandel" zu übersetzen wäre. Die Serie scheint eine Dokumentation aus der Bergbaustadt Iwaki City. Doch die Sicht auf Menschen, Orte und Details ist äußerst subjektiv, die Blickpunkte ausgewählt wie inszeniert. Manche Schatten scheinen wirklicher als die Menschen, und ein aus der Erde aufgebogenes Stahlseil mutiert zur Lebendigkeit einer Pflanze.
Die Reihe ist vor allem eine gefühlsbetonte Reise in die eigene Erinnerung an die Stadt, in der der Künstler 1943 geboren wurde. Und sie ist ein klarer Bruch mit der damals vorherrschenden objektiven Fotografie, wie sie zur selben Zeit auch der bekanntere Daido Moriyama in seinem Buch "Farewell Photography" oder wenige andere in Europa und Amerika vollzogen.
Ganz angemessen ist auch das Katalogbuch - in die Auswahl zum Fotobuch des Jahres gewählt - keine Coffeetable-Ausgabe von schönen Bildern. Es will keineswegs die handgemachten Bilder und die oft mit der Schere bearbeiteten Vorstufen in die schöne neue Digitalzeit holen. Vielmehr versucht es, Kiyoshi Suzukis Buchdummys mit ihrem etwas schäbig übernutzten Charme und ihrem provisorischen und kreativen Charakter nahezukommen. Vor allem aber lohnen die tiefgründigen Originale des nur 57 Jahre alt gewordenen Kiyoshi Suzuki einen langen, subjektiv einfühlenden Blick zurück.
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