Forschung in der Europäischen Union: Weniger Geld für die Wissenschaft
Der Europäische Forschungsrat schlägt Alarm. Innerhalb der kommenden sieben Jahre soll der Etat drastisch gekürzt werden.
Ursprünglich war für den Nachfolger des jetzt zu Ende gehenden Forschungsrahmenprogramms Horizon 2020 (Gesamtvolumen für 2014–2020: 75 Milliarden Euro) – aus dem der ERC eine Fördersumme von 13,5 Milliarden Euro erhielt – eine Zielmarke von 120 Milliarden Euro in den Jahren 2021 bis 2027 angepeilt worden.
Das Europäische Parlament hat sich diese Zahl bereits zu eigen gemacht. Dagegen fiel der Haushaltsvorschlag der EU-Kommission mit 94,4 Milliarden schon deutlich reduzierter aus. Für den Europäischen Rat, die Kammer der Regierungschefs, legte Ratspräsident Charles Michel jetzt einen Budgetvorschlag von nur 89,6 Milliarden Euro für Horizon Europe vor – für die Wissenschaftler ein Affront. Auch die Vereinigung europäischer Forschungsuniversitäten LERU (League of European Research Universitie) protestierte.
Der ERC könne sich „nicht vorstellen, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs dem zustimmen können, während sie sich gleichzeitig auf das Engagement und die Fähigkeiten der europäischen Forscher verlassen, um die andauernde globale Pandemie zu bekämpfen und auf unerwartete zukünftige Herausforderungen vorbereitet zu sein“, schreibt der Forschungsrat in seiner Stellungnahme. Gewarnt wird davor, sich in der Forschung zu sehr auf kurzfristige Ergebnisse auszurichten. Nötig sei ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Grundlagenforschung und einer gezielteren, auftragsorientierten Forschung
Allerdings hat der ERC auch mit eigenen Problemen zu kämpfen. In dieser Woche startete das Gremium einen Aufruf an die Forschungscommunities der EU-Mitgliedsstaaten, neue Mitglieder für das 22-köpfige Expertengremium zu benennen. Derzeit ist der Rat ohne Führungskopf, nachdem Anfang April der frisch gekürte ERC-Präsident Mauro Ferrari von seinem Amt nach nur drei Monaten wieder zurücktrat.
Der italienische Nanomedizinunternehmer nannte als Grund für den Bruch die Uneinigkeit mit den anderen ERC-Führungsmitgliedern über eine Neuausrichtung des Rates zur Bekämpfung der Coronapandemie. Diese wiederum monierten, Ferrari seit die meiste Zeit für seine Firma in den USA unterwegs und kümmere sich zu wenig um seine Brüsseler Aufgabe. Nun läuft die Suche nach einem Nachfolger.
Aus den Fehlern lernen
„In der gegenwärtigen Situation muss alles darangesetzt werden, eine herausragende Persönlichkeit für die Leitung des Forschungsrats zu gewinnen, welche die Belange der europäischen Wissenschaft kraftvoll vertreten kann“, mahnte der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), Martin Stratmann. „Dabei muss ein Verfahren gewählt werden, das der Position angemessen ist und den Standards der scientific community entspricht“ – ein Satz, der sich auch als rückblickende Kritik an der Ferrari-Ernennung lesen lässt.
Der ERC wurde 2007 als Institution zur Förderung der Spitzenforschung in Europa gegründet. Das Besondere: Nicht Einrichtungen werden finanziert, sondern Personen, wissenschaftliche Talente in verschiedenen Phasen ihrer Karriere, die weitere kreative Entwicklungsschübe erwarten lassen.
Als Vorbild für die Konstruktion stand die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Pate, deren langjähriger Vorsitzender Ernst-Ludwig Winnacker denn auch 2007 zum ersten Generalsekretär des ERC bestellt wurde. Deutsche Forscher haben bis Ende 2019 insgesamt 711 ERC-Förderungen erhalten, der zweitbeste Nationalwert nach Großbritannien (896). Die Zuwendung beläuft sich im Durchschnitt auf 2,5 bis 3,5 Millionen Euro für die Dauer von maximal fünf Jahren.
Wie es weitergeht mit der Forschung in Europa, das werden in der kommenden Woche die EU-Wissenschaftsminister in einer Videokonferenz unter Leitung von Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) beraten. Deutschland hat in diesem Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft inne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn