Forscherin über Epigenetik: „Unser Umfeld ist entscheidend“
Ernährung, Stress, soziales Engagement: All das beeinflusst nicht nur uns, sondern im Zweifel auch unsere Kinder und Enkel, sagt Isabelle Mansuy.
taz am wochenende: Frau Mansuy, was versteht man unter Epigenetik?
Isabelle Mansuy: Die Epigenetik erforscht alle Mechanismen, die das Genom des Menschen, der Tiere und der Pflanzen regulieren. Das Genom ist der Code unserer DNA. Die Epigenome regulieren, lesen und beeinflussen unsere DNA. Man kann es mit einem Buch vergleichen. Die Genome sind das Buch, und die Epigenome sind seine Leser*innen, die das Buch teilweise oder vollständig lesen und es unterschiedlich interpretieren.
Ebenfalls ein beliebtes Beispiel, um Epigenetik zu erklären, sind eineiige Zwillinge.
Ja, denn eineiige Zwillinge entstehen aus derselben Eizelle. Da diese ein bestimmtes Genom hat, haben eineiige Zwillinge exakt die gleichen Gene. Trotzdem wachsen sie unterschiedlich heran. Wenn nur das Genom entscheidend wäre für die Regulation des Körpers, des Charakters, der Empfindlichkeit für Krankheiten, dann wären eineiige Zwillinge genau gleich. Aber das ist nicht der Fall.
Die Professorin für Neuroepigenetik setzt sich seit mehr als 20 Jahren mit der Epigenetik auseinander. Derzeit leitet Mansuy ein Labor an der Universität Zürich und ETH Zürich, das die Vererbung erworbener Eigenschaften bei Säugetieren untersucht.
Den Unterschied machen also die epigenetischen Faktoren?
Genau. In der Genetik ist man lange davon ausgegangen, dass nur unsere Gene bestimmen, was wir an unsere Kinder weitergeben. Dahinter steckt die Annahme, dass sich unsere DNA nur über unsere Gene verändert. Mittlerweile wissen wir, dass auch epigenetische Faktoren vererbbar sind, also etwa Einflüsse, die Umwelt und Lebenserfahrungen auf uns haben. Aus evolutionärer Sicht sind die epigenetischen Faktoren sogar stärker, da sie direkt mit ihrer Umwelt reagieren. Bei genetischen Veränderungen ist erst einmal eine Mutation notwendig, damit sich der Code ändert. Ist das geschehen, kann er nicht mehr rückgängig gemacht werden –anders als bei epigenetischen Veränderungen.
Trotzdem wird der Epigenetikforschung erst seit Kurzem mehr Bedeutung zugemessen. Woran liegt das?
Lange fokussierte sich die Forschung auf das Genom. Aber auch darüber wissen wir noch nicht alles. So haben nur etwa 1 bis 2 Prozent unserer Genome eine codierende Funktion, die anderen 98 bis 99 Prozent haben regulatorische Funktionen. Das ist so, als würden Sie ein Buch lesen, aber nur 1 bis 2 Prozent der Buchstaben verstehen. Erst in den letzten 20 Jahren haben wir dann angefangen, zu verstehen, dass auch Epigenome einen entscheidenen Einfluss auf die DNA haben.
Der französische Entwicklungsbiologe Jean-Baptiste de Lamarck sprach schon im 18. Jahrhundert von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“. War er seiner Zeit voraus?
Das war keine Voraussicht, sondern eine Beobachtung. Wie Darwin war Lamarck ein Naturalist. Durch die Beobachtung von Pflanzen und Tieren wurde ihm bewusst, dass sie sich an ihre Umgebung anpassen. Und dass diese Veränderungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Aber Lamarck war nicht der Erste – schon in der Bibel wird erwähnt, dass das, was deine Eltern getan haben, dich beeinflussen wird.
Wo finden sich denn solche epigenetischen Prozesse in der Natur?
Zum Beispiel bei Bienenvölkern. Die Bienenkönigin ist die Einzige, die ihr Leben lang Gelée Royale isst. Die anderen Bienen bekommen diesen nährstoffreichen Futtersaft nur am Anfang ihres Lebens, danach ernähren sie sich von Pollen und Honig. Mit der Zeit entwickelt die Königin ganz andere körperliche Merkmale als ihr Bienenvolk. Somit ist die Ernährung entscheidend für die Entwicklung der Bienen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das Gelée Royale sehr viel nährstoffreicher ist. Dadurch werden im Organismus der Bienenkönigin dann ganz andere Gene aktiviert.
Und was beeinflusst die Epigenome beim Menschen?
Eigentlich alles, womit unser Körper in Berührung kommt. Und das sowohl von innen als auch von außen. Ernährung, Rauchen, Alkohol, Stress, Sport, Wut, soziales Engagement – alles, was unser eigenes Ich verändert.
Dann hat Epigenetik also auch einen sozialen Aspekt?
Ja. Da unser Umfeld unsere Epigenome beeinflusst, ist dieses Umfeld entscheidend. Anders als in der Genetik, bei der es vor allem um ethische Fragen geht, wird unsere Gesundheit in der Epigenetik zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema. Eine Erkenntnis der Epigenetik ist beispielsweise, dass sich unsere Epigenome in unserer Kindheit und Jugend stärker verändern. Das heißt, wir sollten uns mehr mit der mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen, mit deren Ernährung, Lebensbedingungen und Beziehungen zu ihren Eltern.
Wieso verändern sich unsere Epigenome in unserer Kindheit und Jugend stärker?
Biologisch lässt sich das damit erklären, dass ein Organismus, der gerade noch dabei ist, sich weiterzuentwickeln, auch automatisch stärker modifizierbar ist. Wer wir als Erwachsene sind, hat viel damit zu tun, was für eine Kindheit wir hatten. Bestimmte Zellen sind in der Kindheit noch nicht vollständig geformt. Aber das heißt nicht, dass sich unsere Epigenome im Laufe unseres Lebens nicht noch ändern lassen.
Wie wir als Kinder und Jugendliche leben, beeinflusst also automatisch unsere Nachkommen?
Das ist wissenschaftlich schwer zu belegen. Aber es ist wahrscheinlich, dass Menschen, die beispielsweise ein schweres Kindheitstrauma erlebt haben, bestimmte Symptome an ihre Nachkommen weitergeben. Bei Mäusen konnten wir nachweisen, dass die Symptome von Kindheitstraumata bis in die fünfte Generation weitervererbt wurden. Und auch bei Menschen gibt es ähnliche Studien. Hat jemand eine extreme Hungersnot oder Gewalt erlebt, leiden dessen Nachkommen vermehrt unter Übergewicht, Krebs und Depressionen. Trotzdem können wir nicht hundertprozentig sagen, dass es genau die epigenetischen Prozesse sind, die dafür verantwortlich sind. Außerdem können die Effekte des Traumas wahrscheinlich auch korrigiert werden. Sonst würden wir ja alle wegen der beiden Weltkriege unter Depressionen leiden.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
In der Psychologie gibt es den Begriff der „Transgenerationalen Traumata“. Spielen epigenetische Erkenntnisse bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen eine Rolle?
Ich glaube, die Psychotherapie bezieht die Epigenetik ein, ohne es zu wissen. Sie arbeitet ja genau daran, dass das Umfeld, Selbstwertgefühl und die Selbstreflexion ihrer Patient*innen verbessert werden. Und diese Prozesse haben dann auch einen direkten positiven Einfluss auf die Epigenome im Körper.
Kann man denn sagen, welche Epigenome weitervererbt werden und welche nicht?
Wir wissen nicht, welche Markierungen genau sich verändern und welche übertragen werden. Bis wir zu unseren jetzigen Erkenntnissen gekommen sind, hat es 20 Jahre gedauert. Es gibt noch viel zu erforschen.
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