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Forscherin über Auswege für Russland„Putin fürchtet die Soldatenmütter“

Susanne Schattenberg von der Bremer Forschungsstelle Osteuropa findet die deutsche Russlandpolitik kurzsichtig. Für Putin sieht sie einen Ausweg.

Hat sich laut Susanne Schattenberg trotz klarer Agenda verkalkuliert: Machtmensch Putin Foto: Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa
Interview von Petra Schellen

taz: Frau Schattenberg, ist Putin wahnsinnig – oder schlauer als wir alle?

Susanne Schattenberg: Ich glaube, dass er eine klare Agenda hat, sich aber verkalkulierte. Einerseits richtet sich seine Außenpolitik nach innen; er will Demokratisierung im nahen Ausland unterbinden, um die eigene Bevölkerung abzuschrecken. Sein außenpolitisches Ziel wiederum war, den Großmachtstatus der Sowjetunion wieder herzustellen und die Ukraine binnen Kürzestem Russland einzuverleiben.

Was nicht funktionierte. Warum „verzockt“ sich ein erfahrener Machtmensch wie Putin?

Es ist charakteristisch für einen Alleinherrscher, die eigene angenommene Unfehlbarkeit so weit zu treiben, dass er sich nicht mehr beraten lässt. Ich glaube, er hat keine Leute mehr, die ihm sagen, wie die Stimmung in der Ukraine und der Zustand der Armee wirklich sind.

Sie haben Putin einmal Geschichtsrevisionismus attestiert. Woher kommt das?

Irina Scherbakowa von „Memorial“ hat ihm vorgeworfen, dass er keine Zukunftsvision für Russland hat. In der Tat hat er keinen Entwurf, wie Russland wirtschaftlich saturiert in einer florierenden Demokratie leben kann. Stattdessen leitet er seine Legitimation und die Russlands aus der Geschichte und letztlich dem Zweiten Weltkrieg ab.

Im Interview: Susanne Schattenberg

Susanne Schattenberg

50, Slawistin und Historikerin, ist seit Oktober 2008 Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa sowie Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen.

Dabei behauptet er ja, er fühle sich von der Nato bedroht.

Ja, er hat die ganze Zeit argumentiert, dass die Nato von der Ukraine aus demnächst Russland angegriffen hätte und sein Angriff ein Präventivschlag war. Andererseits setzt er darauf, dass die Nato nicht angreifen wird, weil sie den Dritten Weltkrieg fürchtet. Damit fällt Putins Bedrohungs-Argumentation in sich zusammen.

Warum argumentiert er zudem mit „Entnazifizierung“, obwohl der ukrainische Präsident Selenski Jude ist? Warum verdreht er die Wahrheit so offensichtlich?

Das ist seine Propaganda­strategie gegen die eigene Bevölkerung – ein ebenso wichtiger Feldzug. Denn er weiß vermutlich, dass die russische Bevölkerung gegen diesen Krieg wäre, wenn sie wüsste, dass es ihn gibt. Solange der Krieg nicht in deren Wohnzimmern ankommt, wird seine Bevölkerung nicht auf die Straße gehen. Damit sie das nicht tut, hat er die Verwendung des Wortes „Krieg“ unter drastische Strafen gestellt. Und alle, die auf die Straße gehen – und wir sehen derzeit für russische Verhältnisse Massendemonstrationen in zig Städten – werden sofort verhaftet.

Kann Putin sich also sicher fühlen?

Nein, irgendwann lässt sich das nicht mehr im Zaum halten. Ich glaube auch, dass er die Soldatenmütter-Komitees fürchtet. Die schreiben auf ihrer Homepage, dass sie überflutet werden mit Anfragen verzweifelter Verwandter, die nicht wissen, wo ihre Männer und Söhne sind, weil den rund 100.000 Soldaten ihre Mobil­telefone weggenommen wurden, bevor sie in den Krieg geschickt wurden. Aber irgendwann wird das durchsickern und die Leute werden demonstrieren.

Die andere Hoffnung ist, dass die Sanktionen wirken – was die RussInnen jetzt schon spüren. Internet und Face­book sind abgeschaltet, man kriegt kaum noch Geld an den Automaten, Supermärkte rationieren Lebensmittel. Und sowohl der Unmut über den Verbleib der Männer als auch über die Verschlechterung des Alltags gelten in Russland als legitimer sozialer Protest, wären also nicht strafbar.

Wenden wir den Blick: Ist das Erstaunen des Westens scheinheilig?

Die Forschungsstelle

Gegründet wurde die Forschungsstelle Osteuropa am der Bremer Uni 1982 unter dem Eindruck der Polen-Krise von dem Geschichtsprofessor Wolfgang Eichwede. Er wollte einen „sicheren Hafen“ für Untergrundliteratur schaffen.

Heute beherbergt das Institut 100.000 Originaldokumente sowie Dissidentennachlässe. Seit den 2000er-Jahren erscheinen regelmäßig „Länderanalysen“, die man kostenlos per Mail abonnieren kann.

Wohl kaum jemand hätte gedacht, dass Putin einen solchen Krieg riskiert. Selbst nach der Annexion der Krim 2014 wurde unterschätzt, wie weit er bereit ist zu gehen. Schon damals wären drastischere Sanktionen nötig gewesen. Andererseits ist es eine Stärke des Westens, so lange wie möglich eine diplo­matische Lösung zu suchen, aber im Kriegsfall wie jetzt mit aller Macht sehr geschlossen zurückzuschlagen.

War es Hybris – oder koloniales Denken – zu glauben, Putin schätze den Dialog so wie wir?

Durchaus. Mir fehlt hierzulande eine Politik, die russische Außenpolitik kontinuierlich analysiert, um zu begreifen, in welchen Kategorien Putin denkt und handelt. Was ich aber auch uns Russ­land­ex­per­t*in­nen anlaste: dass wir nicht mit Militärs und Kriegsstrategen gesprochen haben, um Putins Handlungsoptionen klarer zu sehen.

Sind westliche Politiker zu geschichtsvergessen, um Putins Sehnsucht nach der Sowjetunion einzukalkulieren?

In der Tat wird zu oft gedacht: Die Politik im Hier und Jetzt kann ich aus dem Hier und Jetzt verstehen. Dafür brauche ich Ökonomen und Politologen, aber keine Historiker. Aber je eigener eine Kultur ist – und die russische Geschichte würde ich tendenziell anders beschreiben als westeuropäische –, desto mehr muss man darüber wissen, wie sich das jeweilige Land entwickelt hat, weil es viele Denkweisen, Strukturen, Traditionen, Identitäten gibt, die weiterleben.

Wie könnte Putin eigentlich aus dem Krieg herauskommen?

Realistisch gibt es drei Optionen: Er gewinnt diesen Krieg und kann sich auf unabsehbar lange Zeit halten. Oder er wird von seiner Bevölkerung oder jemandem aus dem Sicherheitsapparat gestürzt. Oder aber er lässt sich von der Duma bitten. Das hat er schon 2020 praktiziert, als er die Verfassung änderte, um die Präsidialzeit zu verlängern. Da hat er die Kosmonautin Walentina Tereschkowa auftreten lassen, damit sie ihn bat, zwei weitere Amtszeiten zu bleiben.

Diese Inszenierung von „Das Volk will es“ ist etwas sehr Sowjetisches. Auch bei der Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ in der Ost-Ukraine hat die Duma gesagt: Wir erbitten es. Es wäre ein Weg, dass er jemanden in der Duma findet – möglichst eine Frau –, die aufsteht und sagt: Wir bitten den Präsidenten, diese Operation zu beenden wegen unserer Söhne. Dann könnte er umschalten von „Putin, der Schreckliche“ auf „Putin, der Weise“.

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5 Kommentare

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  • Auch in diesem Gespräch wird deutlich, wie wenig wir über Russland und seine eigene identitäre Politik noch nach über 30 Jahren Russlandforschung tasächlich wissen. Das liegt unter anderem daran, dass es oft sehr schwer für uns ist, die Perspektive zu wechseln, die eigenen "Filter" vor den Linsen, durch die wir die Welt betrachten, auf neutral zu schalten. Aber genau das ist nötig für sachliche Analysen. Wir müssen anfangen, uns aus der Situationslogik zu lösen, und bereits jetzt konstruktiv an einem Miteinander mit Russland in der Zeit nach dem Krieg zu arbeiten. Ein Gegeneinander wird nichts Gutes bringen. Ein Nebeneinander bringt uns nicht vom jetzigen Tiefpunkt weg. Es ist dafür wichtig, keine Feindschaft gegen Russland oder "die Russen" aufzubauen oder zuzulassen. Das Land und seine Menschen sind Geiseln einer paranoiden Führungsschicht aus wenig befähigten Männern, die einer Art Geheimbund angehören, der alle Knotenpunkte des Staates, des Militärs, der Polizei, der Nationalgarde, der Finanzwirtschaft beherrscht und teils mit tschekistischer Nostalgik, teils mit russisch-orthodoxem Menschenbild als ideologischem Unterbau an der Selbsterhaltung arbeitet, für die ihr Führer Putin der Garant ist.Wenn russiche LKW-Fahrer hierzulande auf Parkplätzen weinend in ihren Kabinen sitzen (selbst gesehen!), dann wird dieser Zusammenhang um so mehr deutlich. Wir müssen Russland helfen, aus diesen Zwängen entkommen zu können, um der Ukrainischen Menschen Willen, um der Nachbarländer Russlands Willen, um unser selbst Willen. Putin sieht sich im Kampf gegen die USA und gegen die Nato "für sein Land". Wir Europäer sollten unsere eigene zukünftige Russlandpolitik nicht zum zentralen Bestandteil dieses Gegensatzes machen lassen. Nicht durch Putins Regime, aber auch nicht durch US-amerikanische Geostrategie. Unsere Stärke muß die Zivilgesellschaft sein, nichtdie tödliche Waffensysteme. Nur, wenn wir nicht als militärische Bedrohung auftreten, haben wir dafür eine Chance.

  • Das ist das erste Mal, dass ich eine Idee für ein Ende dieses Krieges höre, die nicht komplett unrealistisch erscheint - die hier aufgeführte dritte Möglichkeit.



    Oh, wenn es doch so gehen würde - und bald!!

  • Eine angenehm sachliche Analyse, die auch den Mut hat zu formulieren, wie die Zukunft aussehen könnte.

  • Die von Utkin sogenannte Gruppe Wagner (nach Hitlers Lieblingskomponist) ist beauftragt Selensky umzubringen. Bisher wurden drei Versuche abgewehrt. Q: web.de,



    Belltower.News 2022-03-01 „Gruppe Wagner“ Putins rechtsextreme Schattenarmee damit beauftragt, den ukrainischen Präsidenten Selenskyj zu ermorden



    www.belltower.news...attenarmee-128487/

    • @nzuli sana:

      Haben Sie vielleicht unter dem falschen Artikel kommentiert? Denn Ihr Kommentar hat überhaupt keinen Bezug zum Artikel.