Forscher über vergessene NS-Opfer: „Die Nazi-Narrative wirken fort“
Grüne und FDP wollen „Asoziale“ als vergessene Opfer der NS-Zeit anerkennen. Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher über eine Tradition des Hasses.
taz: Herr Nonnenmacher, Donnerstag Nacht wurde im Bundestag über die Anerkennung der als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ durch die Nazis Verfolgten gesprochen. Wie haben Sie die Debatte empfunden?
Frank Nonnenmacher: Zunächst einmal bin ich sehr zufrieden damit, dass nach über 70-jährigem Schweigen im Bundestag die bislang ignorierten NS-Opfergruppen überhaupt diskutiert wurden. Das ist ein großer Erfolg unseres Appells, den die Abgeordneten der Grünen, der FDP und der Linken sehr empathisch befürwortet haben.
Aus der Union gab es Bedenken, ein interfraktioneller Antrag kommt seit einem Jahr nicht zu Stande.
Die Rede von Melanie Bernstein von der CDU lässt noch Raum für eine interfraktionelle Vereinbarung in den Ausschüssen. Sie hat zwar zu der Hauptforderung der beiden Anträge nicht Stellung genommen, aber sie hat die Träger der historisch-politischen Bildung ermuntert, Förderanträge für die Erstellung von Ausstellungen zu den ignorierten Opfern zu stellen. Das genau steht ja auch in unserem Appell als eine der notwendigen Konsequenzen aus einer offiziellen Anerkennung. Die Frage ist, ob die große Koalition ihr Versprechen im Koalitionsvertrag, bisher weniger beachtete Opfergruppen anzuerkennen, noch einlösen wird.
Wohnungslose, Arme, Streikende, Sexarbeiter*innen oder Swing-Tanzende wurden verfolgt, eingesperrt, teilweise sogar sterilisiert. Welche Rolle spielte diese spezifische Verfolgung im Nationalsozialismus?
Der „Asoziale“ und der „Gewohnheitsverbrecher“ bildeten den Gegenpol des von den Nazis gewollten Ideals vom fleißigen, leistungsstarken und an der Fortentwicklung der deutschen „Rasse“ interessierten Deutschen. Demgegenüber wurden Bettler, Wanderarbeiter, Wohnsitzlose und Fahrende Leute als ressourcenverbrauchende Schädlinge, als „nutzlose Esser“ bezeichnet. Sie wurden als „Ballastexistenzen“ erst verbal ausgegrenzt, dann real. Viele kamen in die Konzentrationslager, wo „Asoziale“ mit schwarzem und „Gewohnheitsverbrecher“ mit grünem Winkel markiert wurden. Für die SS waren sie dort eine beliebte Zielscheibe für Demütigungen und Qualen bis hin zum Mord.
geboren 1944 in Monsheim, ist emeritierter Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt am Main. 2014 veröffentlichte er eine Biographie seiner beiden Onkel, von denen einer als sogenannter „Asozialer“ von den Nazis im Konzentrationslager interniert wurde. In einer breit unterstützten Petition an den Bundestag forderte er 2018 die Anerkennung der NS-Opfergruppen der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“.
Wie erklärt sich die Entwürdigung sogenannter „Gewohnheits-“ und „Berufsverbrecher“?
Die Nazis behaupteten, dass der deutsche Staat „gesäubert“ sei, die Kriminalität so gut wie ausgerottet. Wer dennoch oder wiederholt straffällig geworden ist, der hatte in der Weltsicht der Nationalsozialisten bewiesen, ein kriminelles Gen in sich zu tragen. Und das sei der deutschen „Rasse“ eigentlich nicht eigen. Deshalb wurden solche Menschen, wie zum Beispiel mein Onkel Ernst, nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe ohne weiteres Verfahren in ein KZ eingeliefert und sollten dort „durch Arbeit vernichtet“ werden.
Die Nazis internierten Ihren Onkel Ernst Nonnenmacher als „Asozialen“ im Konzentrationslager. Wie wurde diese Geschichte in Ihrer Familie nach 1945 aufgearbeitet?
Mein Onkel Ernst kam als „Berufsverbrecher“ erst ins KZ Flossenbürg, dann bis zur Befreiung nach Sachsenhausen. In den Nachkriegsjahren bemühte er sich vergeblich als „Opfer des Nationalsozialismus“ anerkannt zu werden. Sehr schnell wurde ihm gesagt, was bis heute gilt: er sei weder politisch, religiös noch rassisch verfolgt, also zu Recht im KZ. Dieses Etikett hat ihn sehr gekränkt und er hat, wie fast alle ehemaligen KZ-Häftlinge mit schwarzem und grünem Winkel, geschwiegen.
Das heißt, die Scham der Opfer überwog?
Genau. Scham und die Erkenntnis, dass für Menschen wie ihn kein Verständnis da ist. Erst Anfang der 70er-Jahre hat er sich mir und später auch anderen geöffnet. Während Ernst im KZ war, war sein Bruder Luftwaffenpilot. Zwischen ihnen hat es nie auch nur ein einziges Gespräch über diese Zeit gegeben. Ernsts Geschichte ist auch ein Anlass für den Appell, der jetzt im Bundestag debattiert wird.
Die Öffentlichkeit fehlte gänzlich. Wieso?
Das liegt zunächst einmal daran, dass die Toten nicht mehr reden können. Und Überlebende dieser Opfergruppen schwiegen in aller Regel nach 1945. Sie haben keine Interessengruppe gebildet, die sich öffentlich wirksam zu Wort gemeldet hätte. Sie haben keine Autobiografien verfasst, sind nicht öffentlich aufgetreten und wurden aus der deutschen Erinnerungskultur ausgeblendet. Auch die Wissenschaft hat sich jahrzehntelang nicht mit dieser Opfergruppe beschäftigt, bei Entschädigungen wurde sie nicht beachtet. Und zu einem großen Teil haben die anfangs erwähnten Narrative über „Asoziale“ und „Gewohnheitsverbrecher“ fortgewirkt – zum Teil bis heute.
Erwerbslose werden heute als „Sozialschmarotzer“ entwürdigt, das private Fernsehprogramm als „Assi-TV“ geschmäht. Wieso fehlt hier ein kritisches Bewusstsein?
Es genügt eben nicht, wenn sich Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen immer wieder bemühen, gängige Beleidigungen wie „du Assi“ oder gar das Wort „Jude“ als Schimpfworte zu bekämpfen. Hier müssten alle als Vorbild wirkenden Ikonen, wie Spitzensportler, Showstars, YouTuber oder „Influencer“ viel deutlicher Stellung beziehen. Auch den neuen Rechtsextremismus sehe ich hier als eine Gefahr. Ein eventueller Beschluss des Bundestages im Sinne der aktuellen Anträge wäre ein wichtiger Beitrag für mehr Sensibilität und kritisches Bewusstsein.
Welche ideologischen Kontinuitäten zeigen sich bis heute?
Ein wichtiger Baustein für das Fortbestehen diskriminierender Zuschreibung besteht in der Individualisierung sozialer Verhältnisse. Es ist eben so, dass in der immer ungerechter werdenden Gesellschaft soziale Not und sogar Delinquenz systematisch produziert werden. Durch die Logik der immer radikaler werdenden neoliberalen Wirtschaftsordnung. Das wollen viele nicht wahrhaben. Sicher hat jeder Mensch eine Selbstverantwortung, auch jeder Bettler, jeder Wohnsitzlose. Aber zugleich ist er den Verhältnissen unterworfen, die seine Situation verstehbar und erklärbar machen. Eben darum muss man sich bemühen, anstatt vorschnell das „selbst schuld“ auszusprechen – und sich dadurch selbst zu entlasten.
In den 80ern feierten Punkbands sich als „asozial“ oder „Asis mit Niwoh“, heute nennen Rapper sich Azzlack, kurz für „asoziale Kanacken“. Die Diskriminierung wird sich popkulturell angeeignet. Eine geeignete Strategie?
Solange es primär der Selbstdarstellung dient, glaube ich nicht, dass es nachhaltig funktioniert. Es scheint ja den Homosexuellen gelungen zu sein, die den rosa Winkel positiv besetzt und zu ihrem Signum gemacht und auch das Wort „schwul“ zum großen Teil von seinem stigmatisierenden Charakter befreit haben. Aber letztlich wichtiger und entscheidender war die jahrzehntelange und beharrliche Arbeit der Schwulen und ihrer Verbände selbst, die ein langsames Umdenken in Politik und Gesellschaft hervorgebracht hat.
Vielmehr sollte also das Leid aufgearbeitet und anerkannt werden?
Nach über 70-jährigem Schweigen ist die Debatte im Bundestag so wichtig. Die Schwarz- und Grünwinkligen als Opfergruppen anzuerkennen wäre ein so wichtiges Signal, es würde sie in die Reihe der Verfolgten des Nazi-Regimes stellen. Skandal genug, dass das für die direkt Betroffenen fast zu spät kommt. Für die Nachkommen, die bislang das schamhafte Schweigen fortgesetzt haben, bedeutet es aber eine Ermutigung sich mit ihrer Familiengeschichte unvoreingenommen zu beschäftigen. Und für unsere Erinnerungskultur könnte es eine Bereicherung sein, dass wir uns auch mit den verdrängten Seiten der Vergangenheit auseinandersetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“