Forscher über Schulstart in Coronazeiten: „Auf Masken nicht verzichten“
Martin Kriegel untersucht, wie sich Aerosole in der Luft verbreiten. Klassenzimmer lassen sich schwer lüften, dort brauche es besonderen Schutz.
taz: Herr Kriegel, Sie sind Professor am Hermann-Rietschel-Institut für Energietechnik der Technischen Universität. Was haben Sie mit Corona zu tun?
Martin Kriegel: Wir beschäftigen uns seit etwa zehn Jahren mit der Ausbreitung von Partikeln in Räumen. Das ist etwa in der Lebensmittelindustrie wichtig: Lebensmittel müssen vor Verunreinigungen durch Keime oder Mikroorganismen in der Luft geschützt werden. Wir wissen also gut Bescheid über deren Ausbreitungsverhalten. Und solche Partikel verbreiten auch das Coronavirus.
Über so genannte Aerosole. Was ist das genau?
Eigentlich ist das ein Kunstbegriff. Es handelt sich um flüssige oder feste kleine Partikel, die in der Luft schweben, weil sie ein derart geringes Gewicht haben, dass sie nicht zu Boden fallen. Der Grund dafür ist ein in Räumen immer vorhandener Luftstrom.
Was ist die Folge?
Die Aerosole, die wir Menschen ausstoßen, verteilen sich im Raum sehr schnell – dafür sind wir selbst verantwortlich. Wir funktionieren wie ein Heizkörper: Die von uns erwärmte Luft mit den Aerosolen steigt nach oben, und immer, wenn etwas nach oben strömt, sinkt woanders etwas nach unten. Sind viele Personen in einem Raum, wirkt das wie so ein Mixer: In ein paar Minuten sind alle Aerosole überall verteilt. Und die atmen wir permanent ein und damit auch die Viren – sofern es sie gibt.
Konnten Sie errechnen, wie lange man sich in einem Raum aufhalten kann, ohne infiziert zu werden?
Dafür ist noch zu wenig über Sars-Cov2 bekannt. Man weiß nicht, welche Virenmenge es braucht, um tatsächlich ein erhöhtes Infektionsrisiko zu haben. Unklar ist auch, wie viele Viren sich auf einem Aerosol befinden: Manche sagen, nur jedes zehnte Aerosol trägt ein Virus, andere glauben, dass jedes Aerosol ein Virus trägt.
Martin Kriegel, 45, ist Professor an der TU Berlin und leitet dort seit 2011 das Hermann-Rietschel-Institut für Energietechnik.
Wie sind Sie in Ihrer Untersuchung mit diesen Unsicherheiten umgegangen?
Wir haben das Grippevirus als Beispiel genommen: Da geht man von etwa 3.000 Viren aus für eine Infektion. Und dann haben wir verschiedene Berechnungen durchgeführt.
Gab es ein konkretes Ergebnis?
Anhand dieser konkreten Zahl von Viren kann man alle möglichen Räumlichkeiten und Situationen berechnen. Grob gesagt: Eine infizierte Person stößt die virenbeladenen Aerosole aus, sie verteilen sich superschnell im Raum, und alle anderen Menschen in dem Raum atmen sie permanent ein.
Das klingt nicht gerade nach der großen neuen Erkenntnis.
Man kann aber Wichtiges daraus ableiten. Etwa, dass man möglichst wenige dieser Aerosole einatmen sollte. Verhindern lässt sich das durch den regelmäßigen Austausch der Luft, wodurch die Konzentration der Viren reduziert wird. Zum anderen gilt: Je kürzer ich mich in dem Raum aufhalte, desto weniger kann ich einatmen.
Wie verändert sich das durch das Tragen einer Maske?
Ein Mund-Nasen-Schutz hält die größeren Tröpfchen, die wir auch immer wieder ausstoßen, sehr wirkungsvoll ab. Die Aerosole hingegen gehen zu 90 Prozent an den Maskenrändern vorbei und gelangen trotzdem in die Raumluft – als Brillenträger merken Sie das, wenn ihre Brille beschlägt. Einen Unterschied macht die Maske aber im Nahbereich: So werden die Aerosole zumindest nicht direkt nach vorne auf umstehende Menschen geleitet, sondern in andere Richtungen.
In der Berliner Landespolitik hatte man die Hoffnung, dass Sie aufgrund Ihrer Forschung berechnen könnten, mit welchen Kapazitäten man ein Theater oder ein Konzerthaus – die ja wegen Corona derzeit geschlossen sind – wieder öffnen kann, ohne die Infektionsgefahr ins Unverantwortliche zu erhöhen. Trauen Sie sich das zu?
In Klassenzimmern Montag in einer Woche startet in Berlin die Schule nach den Sommerferien wieder – anders als kurz nach dem Corona-Lockdown weitgehend im Normalbetrieb ohne geteilte Klassen, inklusive Sport- und Musikunterricht. Am Donnerstag hat Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) zwar eine Pflicht zum Tragen eines Mund-Nase-Schutzes in allen Schulen angeordnet, allerdings gilt diese nicht während des Unterrichts in Klassenzimmern und auch nicht in den Hofpausen.
In Konzertsälen Konzerthäuser und Theater hat Kultursenator Klaus Lederer (Linke) Mitte März schließen lassen. Die Vorgaben werden nach und nach gelockert. Derzeit sind in geschlossenen Räumen bis zu 500 BesucherInnen erlaubt. (taz)
Was die Verbreitung von Aerosolen angeht: ja. Wenn es für den Raum eine wirksame Lüftungsanlage gibt – was ja für viele dieser Veranstaltungsräume gilt –, dann führt sie permanent Frischluft zu, um das giftige Gas Kohlendioxid, das wir ständig ausstoßen, aus dem Raum zu führen.
Und das reicht auch gegen Corona?
Ein Beispiel: Wenn ich in einem Raum mit 100 Menschen eine infizierte Person habe – wir gehen ja bei der aktuellen Lage von eher niedrigen Infektionszahlen aus –, dann wird deren virenbehafteter Aerosolausstoß durch eine riesige Frischluftmenge, ausgelegt für 100 Menschen, verdünnt. In Räumen für weniger Menschen sieht das Verhältnis – wieder ausgehend von einer infizierten Person – schlechter aus. In einem Büro für zehn Personen wäre die Aerosolkonzentration deutlich höher als in einem Veranstaltungsraum. Ein großer Raum ist tendenziell ungefährlicher. Ich würde mich lieber ins Kino setzen, als ins Büro zu gehen.
Erst recht, wenn das Kino aufgrund der aktuellen Auflagen nicht bis zur maximalen Kapazität voll ist.
Richtig – solange die Frischluftmenge nicht reduziert wird. Wichtig ist aber: Alle diese Aussagen gelten nicht für das direkte Umfeld der Personen, weil sich dort die Aerosole noch nicht verteilt haben. Wir müssen also Abstand halten oder Masken tragen.
Sie gehen von modernen Belüftungsanlagen aus. Was ist mit Klassenzimmern, die das ja meist nicht haben? In einer Woche beginnt die Schule wieder, und es gelten dort weder Abstandsregeln noch Maskenpflicht im Unterricht, wie Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) vergangene Woche entschieden hat.
Ich verstehe die Entscheidung nicht, auf Masken und Abstand zu verzichten.
Empfohlen wird immerhin, die Klassenzimmer regelmäßig zu lüften – also die Fenster aufzumachen. Wie effizient ist das?
Diese Debatte ist schon mehr als hundert Jahre alt. Es ist leider überhaupt nicht kontrollierbar, wie viel frische Luft durch ein geöffnetes Fenster hereinkommt. Das hängt von der Windgeschwindigkeit ab, von den Temperaturen außen und innen...
... wegen der Thermik.
Im Winter kommt also mehr Luft rein als im Sommer. Manchmal geht im Sommer aufgrund der Wetterlage gar nichts durch. Und die Menge ist generell nicht sehr groß. Stoßlüften etwa ist häufig nur in den Pausen möglich. Eine andere Gefahr: Wir als Laien verbinden die Menge an Frischluft mit der gefühlten Temperatur. Wenn es also angenehm kalt ist, gehen wir davon aus, dass auch genug Frischluft da ist. Im Winter reicht das meist aber nicht aus, um die Aerosole aus dem Raum hinauszutransportieren.
Wie lange müsste man Klassenzimmer lüften?
Durchzug beschleunigt den Prozess. Geht Lüften nur einseitig, dauert es länger. Fünf Minuten reichen definitiv nicht aus. Es müssten mindestens 10 bis 15 Minuten nach einer Schulstunde gelüftet werden. Aber mit voll aufgerissenen Fenstern und leerem Klassenzimmer! Übrigens war auch die Lage vor Corona schon unverantwortlich wegen der hohen Kohlendioxidkonzentration: Viele Untersuchungen zeigen, dass da alle Grenzwerte stark überschritten werden. Und da sich CO2 ähnlich verhält wie Aerosole, ist das ein Beleg, dass sich auch deren Konzentration nicht ausreichend verringert.
Zusammengefasst gesagt: Je größer ein Raum und je besser die Lüftung, desto eher ist es möglich, in Coronazeiten dort Menschen zusammenzubringen?
Richtig. Je größer ein Raum, desto länger dauert es, bis die Aerosolkonzentration ansteigt. Wichtig ist auch die Tätigkeit: Singen produziert mehr Aerosole als Sprechen.
Wie viel mehr?
Die Werte schwanken. Ein Mittelwert in der Forschung ist 30-mal mehr als beim Sprechen. Es gibt aber auch Untersuchungen, die gehen von 60-mal mehr aus. Das ist sehr individuell. Trotzdem ist in belüfteten Räumen Singen natürlich möglich.
Wenn jetzt der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linke) zu Ihnen kommt und nach einem Rat fragt: Was können Sie ihm empfehlen?
Der Kultursenator war schon hier... Gerade für maschinell belüftete Räume sehe ich kein erhöhtes Risiko, weil die Frischluftzufuhr gesichert ist.
Und die Abstände eingehalten werden.
Oder eine Maske getragen wird.
Man könnte also in einem Konzertsaal die Abstände aufheben und diesen voll besetzen, wenn alle Zuhörer konsequent einen Mund-Nase-Schutz tragen?
Ja. Das ist möglich. So wie etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln auch.
Und was raten Sie der Schulsenatorin, wenn sie kommen würde?
Auch mit Frau Stoffers habe ich schon gesprochen...
... Beate Stoffers, die Saatssekretärin von Bildungssenatorin Scheeres...
Ich habe ihr das Gleiche gesagt wie Ihnen – leider mit dem Ergebnis von letzter Woche, dass es keine Abstandsregeln und keine Maskenpflicht im Unterricht gibt. Ich denke, es wäre auch verständlicher für die Allgemeinheit, wenn man sich einheitlich verhält in Räumen – ganz unabhängig davon, wie viel Kinder zum Infektionsgeschehen beitragen.
Das heißt?
Es kann Regelbetrieb in Schulen geben, aber nicht unter den alten Bedingungen. Die aktuellen Vorgaben finde ich nicht gut umgesetzt. Ein erster Schritt wären längere Pausen, um mehr lüften zu können. Ich hoffe, dass die Rektorinnen und Rektoren aus Berlin und anderen Bundesländern, die mich derzeit um Rat fragen, eine andere Entscheidung für ihre Schule treffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland